Die blaue Stunde
- Rowohlt
- Erschienen: Januar 1995
- 2
- London: Sinclair-Stevenson, 1993, Titel: 'The Blue Afternoon', Seiten: 323, Originalsprache
- Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1995, Seiten: 344, Übersetzt: Matthias Müller
- Berlin: Berlin Taschenbuch Verlag, 2009, Seiten: 398, Übersetzt: Matthias Müller
Eine Geschichte auf drei Kontinenten
Ein ungewöhnlicher Krimi. Er besteht aus drei Teilen, die an drei weit voneinander entfernten Orten spielen: Los Angeles - Manila - Lissabon. Zeit der Handlung ist 1936 im ersten und abschließenden Teil sowie 1902 im Mittelstück, das ca. 260 der insgesamt 400 Seiten einnimmt. Die Teile eins und drei werden aus der Ich-Perspektive der Protagonistin erzählt, während Teil 2 die Geschichte ihres (vorgeblichen) Vaters entfaltet. Bei einer solchen Konstruktion sind dramaturgische Brüche quasi vorprogrammiert. Was nicht unbedingt negativ gesehen werden muss...
Los Angeles, 1936. Die junge Architektin Kay Fischer ist von ihrem Kompagnon schmählich aus dem gemeinsamen Büro gemobbt worden und steht beruflich vor dem Neuanfang. Zudem nervt sie ein aufdringlicher älterer Mann, der vorgibt, ihr Vater zu sein. Als auch das neue Projekt hintertrieben wird und scheitert, gerät Kay immer mehr in den Bann jenes Mannes, der sich Salvador Carriscant nennt. Ist er wirklich ihr Vater? Welches Geheimnis lastet auf ihm? Es muss ein schreckliches sein, das steht fest. Carriscant überredet Kay, mit ihm nach Lissabon zu reisen, wo sich der Schlüssel zu allem befinden soll. Auf der langen Schiffsreise will er ihr erzählen, welches böse Schicksal ihn heimsuchte. Und er hält Wort. Im zweiten Teil des Romans erfahren wir also die Geschichte Carriscants.
Manila, 1902. Dr. Salvador Carriscant arbeitet als angesehener Chirurg in der philippinischen Hauptstadt. Der amerikanisch- philippinische Krieg ist gerade vorbei, die Truppen aus den USA stehen im Land, es brodelt unter der Oberfläche. Carriscant indes hat andere Sorgen. Seine fortschrittlichen Operationsmethoden stoßen auf offene Ablehnung der Kollegen, zudem wird er in eine mysteriöse Mordserie verwickelt, deren Urheber über medizinische Kenntnisse verfügen muss. Als Carriscant, dessen Ehe zerrüttet ist, die mit einem amerikanischen Offizier verheiratete Delphine Sieverance kennenlernt, spitzen sich die Dinge zu. Ein Drama ohne Happyend, ein gewagter Plan misslingt - und Carriscant landet für lange Jahre im Gefängnis.
Lissabon, 1936. Endlich in Europa eingetroffen, klären Carriscant und seine Tochter (Kay zweifelt inzwischen nicht mehr daran) die Vorfälle von Manila.
Wer sich nun über die knappe Beschreibung dieses letzten und auch kürzesten Teils von Boyds Roman wundert, sollte wissen, dass ihn tatsächlich kein actionreicher, nervenkitzelnder Showdown erwartet. Die "Auflösung" geschieht völlig unaufgeregt. Schon der erste Teil ist bei allen angedeuteten Mysterien eher getragen, Kay breitet ihre Architekturtheorien aus und berichtet - Jahre nach den Ereignissen - von ihrem Zusammentreffen mit Carriscant. Das pralle und exotische Leben erwartet uns im langen Mittelstück. Boyd entwickelt es als buntes Genrebild, verarbeitet die politische und historische Situation, den medizinischen Fortschritt auf dem Gebiet der Chirurgie und Hygiene, führt uns in die Slums und Vergnügungsviertel Manilas, die herrschaftlichen Villen und die Denkweisen des Kolonialismus, ja, er macht uns sogar mit den absonderlichen Aktivitäten eines Flugpioniers bekannt. Alles zusammengehalten von einer Liebesgeschichte, die nur in der Katastrophe enden kann.
So hängt zwar alles zusammen, die Teile jedoch könnten unterschiedlicher kaum sein. Die Entscheidung, Carriscants Geschichte völlig losgelöst von der Jetztzeit als Binnenerzählung zu konzipieren, macht es unmöglich, Kays langsame Annäherung an ihren "Vater" zu schildern. Denn über weite Strecken ist Kay im Text ja schlicht nicht vorhanden. Dass sie am Ende Carriscant als ihren Vater anerkennt, wird somit nicht plausibel hergeleitet, sondern muss vom Leser als Tatsache hingenommen werden.
Das völlig undramatische Ende wurde bereits erwähnt. Es ist hoch sentimental, was durchaus seinen Reiz hat und den Verzicht auf alles Spektakuläre hinreichend legitimiert. Boyds Augenmerk liegt auf den Details, dem Pittoresken und manchmal Grotesken - ein Pfund, mit dem er besonders im Mittelteil wuchert. Souverän erzählen kann er sowieso. Und mag Die Blaue Stunde auch weder als auf "Suspense" angelegter Krimi noch sensible Vater-Tochter-Geschichte überzeugen, so wartet auf den Leser doch trotz der Unterschiedlichkeit der Einzelteile und ihrer erzählerischen Umsetzung eine spannende und atmosphärisch gut komponierte Story. Wer gerne in fremde und längst untergegangene Welten eintaucht, kommt hier auf seine Kosten.
William Boyd, Rowohlt
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