Das Buch des Toten
- AWA
- Erschienen: Januar 1958
- 3
- New York: Farrar & Rinehart, 1944, Titel: 'The Book of the Dead', Originalsprache
- London: Hammond, 1946, Titel: 'The Book of the Dead', Originalsprache
- München: AWA, 1958, Seiten: 190, Übersetzt: Hans Friedrich Kliem
- Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2009, Seiten: 245, Übersetzt: Hans Friedrich Kliem, Bemerkung: Fischer Crime Classic; mit einem Nachwort von Lars Schafft
Zwischen den Zeilen (steht Mörderisches zu) lesen
Im Sommer des Kriegsjahrs 1943 wird Henry Gamadge, ein Experte für alte Manuskripte und Bücher, der in der Vergangenheit schon mehrfach erfolgreich als Privatdetektiv tätig wurde, von der Zahnarzthelferin Adele Fisher um Hilfe gebeten. Sie hat im Vormonat den Urlaub in ihrem Heimatort Stonehill, US-Staat Vermont, verbracht. Dabei lernte sie einen netten älteren Herrn kennen. Howard Crenshaw, nach eigener Auskunft ohne Familie und sterbenskrank, wollte die letzten Lebenstage in aller Ruhe verbringen. Über das Mitgefühl der jungen Frau freute er sich, war aber bemüht, ihre Existenz seinem Diener Perry vorzuenthalten, den er regelrecht zu fürchten schien.
Seiner Bekannten lieh Crenshaw einen Band mit Shakespeare-Dramen, der ihm lieb und teuer war. Deshalb war Adele erschrocken, als sie feststellen musste, dass Crenshaw nach New York abgereist war, wo ihn kurz darauf sein Ende ereilte. Zudem fand sie in dem Buch seltsame handschriftliche Anmerkungen, die sie als Hilferuf interpretiert. Gamadge soll das Rätsel lüften.
Die letzten Tage des Howard Crenshaw weisen in der Tat einige Merkwürdigkeiten auf. Wieso hat sich der reiche Mann als Arzt den heruntergekommenen Florian Billing ausgesucht, der eher verschwiegen als fähig zu sein scheint? Was geschieht in dem obskuren"Woods-Heim für Geisteskranke, Alkoholiker und Rauschgiftsüchtige", in das sich nicht mehr vorzeigbare Zeitgenossen diskret abschieben lassen? Und vor allem: Wer schlug Adele Fisher auf offener Straße den Schädel ein? Gamadge hat offenbar in ein Wespennest gestochen. Die definitive Bestätigung erhält er, als der Mörder auch ihm in seinem Heim auflauert ...
Deduktion ist vor allem Arbeit
Der klassische Cozy ist allgemein nicht für seine Realitätsnähe bekannt. Im Vordergrund steht der möglichst komplizierte "Fall", den der Detektiv, umgeben von einer Schar potenzieller Verdächtiger, auf hoffentlich geniale und unterhaltsame Weise zu lösen hat. Über dem Geschehen liegt eine eigentümliche Stimmung, die sogar dem mörderischen Anlass einen "gemütlichen" Anstrich gibt.
Das Buch der Toten erfüllt alle genannten Anforderungen, weicht aber gleichzeitig davon ab und geht einige ungewöhnliche Wege. Was zunächst paradox klingt, wird von Elizabeth Daly routiniert und schlüssig umgesetzt. Bereits der Titel lässt die Freunde des „Kuschelkrimis" hoffen: Das ominöse Buch ist der ideale „MacGuffin" - der Anlass, der die Handlung in Gang setzt. Daly entscheidet jedoch früh, besagtes Buch an den Rand des Geschehen rutschen zu lassen. Es gibt seine Informationen preis, die in die folgenden Ereignisse einfließen und dort von neuen Fakten verdrängt werden. Das Buch ist ein Indiz, aber nicht das Indiz, von dem die Klärung abhängig ist.
Der Plot unserer Geschichte ist ohnehin recht komplex. Das klassische Miträtseln des Lesers ist Dalys Anliegen nicht. Schon die Einleitung macht es deutlich: Hier liest man eine Szene, die keine "Zeugen" in Gestalt horchender Personen hat, die später darüber Auskunft geben können. Der allwissende Erzähler ist im klassischen Whodunit eine Ausnahmeerscheinung. Üblicherweise müssen alle Geschehnisse durch Indizien oder Zeugen belegbar sein. Daly verzichtet auf diese Form der Leserbindung; sie will ihre Geschichte so erzählen, wie sie es für richtig hält.
Mörderjagd an der Heimatfront
Aus heutiger Sicht mag der Plot reichlich altmodisch wirken. Tatsächlich fädelt Daly das Verbrechen raffinierter ein als anfänglich vermutet. Das Buch der Toten ist kein altmodischer Erbschwindel à la Edgar Wallace, sondern eine kühl und clever konstruierte Intrige mit hohem und aktivem Frauenanteil.
Die Story ist in die Gegenwart des Jahres 1944 eingebettet. Auch die USA sind inzwischen in den Zweiten Weltkrieg eingetreten. Fern der europäischen und asiatischen Kriegsschauplätze existiert eine Heimatfront. Viele Güter des täglichen Bedarfs sind rationiert, nachts wird verdunkelt. Die Detektivarbeit wird immer wieder durch die Notwendigkeit erschwert, sich einen fahrbaren Untersatz zu verschaffen, denn Benzin ist knapp. Mancher Streich gelingt dem Mörder nur, weil er nicht auf den Bus warten muss.
Ohnehin kalkuliert er den Krieg ein: Die Polizei jagt in diesen Tagen eher Spione als ‚normale‘ Strolche. Auch Henry Gamadge stellt sein kriminologisches Wissen inzwischen dem Kriegsministerium zur Verfügung; sein privates Labor ist verwaist, sein Assistent dient als Soldat. Gamadge ist selbstverständlich Patriot und tut, wie ihm geheißen. Als echter Detektiv und Individualist kann er indes der Herausforderung nicht widerstehen, die das Buch der Toten an ihn stellt. Verdächtig rasch glänzt er im Ministerium durch Abwesenheit. Stattdessen zeigt er sich findig, als es gilt, Personal und Sachmittel zu "organisieren", was in diesem Fall eher auf Missbrauch (allerdings im Dienst der guten Sache) hinausläuft.
Detektiv ohne Eigenschaften
Dies hätte man einem Henry Gamadge eigentlich gar nicht zugetraut, denn die exzentrische Genialität der klassischen Krimi-Detektive geht ihm vollständig ab. Zwar geizt er mit zwischenzeitlichen Hinweisen auf den Stand der Ermittlungen genauso nachdrücklich wie seine Kollegen. Ansonsten "versteckt" Daly Gamadges durchaus überragenden Intellekt hinter einer betont farblosen Fassade. Damit gibt sie freiwillig ein cozy-typisches Element auf, denn die Schnurren eingebildeter, sprunghafter, charakterstarker Ermittler, die stets für eine Überraschung gut sind, stellen sonst ein unterhaltsames Pfund dar, mit dem Autoren oft und ausgiebig wuchern.
Gamadge verschmilzt mit dem Fall. Nicht selten zieht er im Hintergrund die Fäden und überlässt seinen Helfern das Feld. So ein Detektiv taugt nur bedingt zur Identifikationsfigur. Gamadge ist als Figur schlicht langweilig, und das beeinträchtigt den Spaß an dem sonst fein gesponnenen Kriminalroman stark. Ecken und Kanten weisen höchstens die Nebenfiguren auf, aber auch hier verkneift sich Daly allzu karikierende Typenzeichnungen. Die vermisst man wiederum nicht, sondern anerkennt die (relative) Lebensnähe der Figuren.
Angelsachsen und Amerikaner
Mit Das Buch des Toten geht die noch junge Reihe "Fischer Crime Classic" quasi in die zweite Staffel. Standen bisher klassische Krimis aus England auf dem Verlagsprogramm, folgt nunmehr der Sprung über den Atlantik. Um auf regionale Unterschiede aufmerksam zu machen, ist Das Buch der Toten ein guter Einstieg. Auf der anderen Seite wird (unfreiwillig) deutlich, wieso Elizabeth Daly, die in Agatha Christie eine prominente Fürsprecherin besaß, hierzulande nie populär wurde: Es fehlt an Leichtig- und an Unverwechselbarkeit. Dem Literaturkritiker mag gerade dies erfreuen, aber der Leser vermisst es.
In einem ausführlichen Nachwort ("Erfunden, vergessen, neu entdeckt und revolutioniert - Über den amerikanischen Kriminalroman") erläutert FCC-Herausgeber Lars Schafft die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Krimi-Regionen. (Ein zweites Nachwort desselben Verfassers informiert über Leben und Werk der Elizabeth Daly.)
Elizabeth Daly, AWA
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