Tokio im Jahr Null

  • Liebeskind
  • Erschienen: Januar 2009
  • 6
  • London: Faber, 2007, Titel: 'Tokyo year zero', Seiten: 355, Originalsprache
  • München: Liebeskind, 2009, Seiten: 408, Übersetzt: Peter Torberg
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Jürgen Priester
100°1001

Krimi-Couch Rezension vonJul 2009

Hier stehe ich, ich kann nicht anders!

Mit diesen Worten soll - der Legende nach – der große Reformator Martin Luther die Unwiderruflichkeit seiner vorgetragenen Thesen unterstrichen haben. Ähnlich standhaft gibt sich Krimi-Autor David Peace, auf seinen außergewöhnlichen Schreibstil angesprochen. In einem Interview mit einem deutschen Nachrichtenmagazin sagt er: "Schreibe immer nur für dich und niemals, um anderen zu gefallen." Und genau das tut er. Es gibt in der Kriminalliteratur kaum einen Zweiten, dessen Stil sich so sehr vom Gros der Kollegen abhebt. Wer sich schon mal an Peaces "Red Riding – Quartett" versucht hat, weiß wovon hier die Rede ist. Peace polarisiert. Die Ablehnungsfront artikuliert sich teilweise drastisch. Von "degeneriertem Schund" oder vom "übelsten Machwerk" ist zu lesen, oder netter ausgedrückt "not my cup of tea" (zu 1974). Diesen Reaktionen ist sich Peace durchaus bewusst: "Ich biete eine Kombination, für die man mit klarem Kopf kein Publikum erwarten kann.": Auf der anderen Seite gibt es auch viele, die von seiner Schreibweise begeistert sind. Die Kritiker sind des Lobes voll. So ist 1974 mit mehreren Preisen u.a. dem Deutschen Krimipreis 2006 ausgezeichnet worden. Auch Tokio im Jahre Null ist mit letzterem als bester Krimi - international für das Jahr 2009 bedacht worden.

Und eins schon vorneweg Tokio im Jahre Null ist stilistisch noch widerborstiger als das "Red Riding Quartett". Peace treibt seine Leser geradezu in den Wahnsinn. Und "Wahnsinn" ist auch das Schlüsselwort für diesen Auftakt der Tokio-Trilogie, dessen Inhalt sich vergleichsweise leicht zusammenfassen lässt:

Der Prolog definiert die Stunde Null am Tag Null im Jahre Null und das ist der 15. August 1945 um 12.00 Uhr. Der Zeitpunkt, an dem der japanische Kaiser Hirohito die Kapitulation seines Landes verkündet und einen Neuanfang signalisieren möchte. Am 6. bzw. 9. August hatten die Amerikaner die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki geworfen und damit das Ende des ehedem aussichtslosen Kampfes der Japaner besiegelt. Tokio und fast alle anderen japanischen Großstädte waren durch Hagel konventioneller Bomben sturmreif geschossen. Die amerikanische Flotte lag vor der Bucht von Tokio.

In Japans stolzer Hauptstadt – jetzt danieder ohne Elektrizität, Wasser, Nahrungsmittel und Medikamente- ist Inspektor Minami von der Mordkommission mit einer Leichensache befasst. Im Keller eines ausgebombten Hauses ist die halbverweste Leiche einer jungen Frau entdeckt worden. Bevor Minami seine Ermittlungen aufnehmen kann, hat die ebenfalls anwesende Militärpolizei schon einen Täter, einen unschuldigen Koreaner, gefunden und exekutiert. Fall abgeschlossen.

Ein Jahr später erinnert sich der Inspektor an diesen Vorfall, als in einem Park zuerst eine und dann ganz in der Nähe eine zweite Frauenleiche gefunden wird. Minami stellt zwar einen gleichen Modus operandi fest, doch bei seinen Recherchen im sozialen und familiären Umfeld der Opfer, kann er keinen gemeinsamen Nenner finden. Ein Aktenstudium ist kriegsbedingt sehr schwierig, aber dann erfolgreich. Minami stößt auf ähnlich gelagerte Fälle in der Vergangenheit und ein Tatverdächtiger kristallisiert sich heraus: Kodaira Yoshio.

Kodaira Yoshio war eine real existierende Person, um dessen Lebensgeschichte David Peace seinen Roman entwickelte, ein Serienmörder, der in den 1930/40er Jahren in China und Japan sein Unwesen trieb. Als junger Soldat im Krieg Japans mit China wird er mit Vergewaltigung, Folter und Mord konfrontiert. Er berichtet:

 

Vier oder Fünf meiner Kameraden und ich drangen in ein chinesisches Haus ein, fesselten den Vater und sperrten ihn in den Wandschrank ein. Wir stahlen ihre Schmucksachen und vergewaltigten die Frauen. Wir schlitzten auch eine schwangere Frau mit dem Bajonett auf, und zogen den Fötus aus dem Bauch. Auch ich beteiligte mich an solchen verdorbenen Aktionen.

 

Sein weiteres Leben ist geprägt von Frustrationen und Gewalt. Im Jahre 1932 erschlägt er im Streit seinen damaligen Schwiegervater mit einer Eisenstange und verletzt in einem Amoklauf sechs weitere Familienmitglieder schwer. Verurteilt, inhaftiert und wegen des 2. Weltkrieges vorzeitig aus der Haft entlassen, beginnt er im Jahre 1945 mit seiner Mordserie, mit dessen Aufklärung David Peaces fiktiver Inspektor Minami betraut wird.

Wenn eine fiktive Geschichte auf realen Ereignissen basiert und nicht allein dem Geiste des Autors entsprungen ist, dann ist es für den Leser immer ein besonders intensives Erlebnis, denn das erzählte Leiden ist ja real ertragen worden. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass man schnell den Inspektor in der Geschichte auch für eine reale Person hält; da mögen seine Gedanken und Gefühle für einen Mitteleuropäer noch so befremdlich sein. Als Ich-Erzähler ist er die zentrale Figur in Peaces Roman. Im streng hierarchisch organisierten Tokioter Polizeiapparat ist er nur ein kleines Rädchen, notorisch unterbezahlt muss er sich tief verbeugen, um seine Existenz und die seiner Familie zu sichern. So buckelt und schleimt er gegenüber den Vorgesetzten, beäugt misstrauisch die ranggleichen Kollegen und hält schon mal das Händchen auf, wenn er den örtlichen Yakuza-Chefs zu Diensten sein kann. Den einzigen Luxus, den er sich leistet, ist eine Geliebte, deren Wohlwollen ihm teuer zustehen kommt. Seine gutdotierten Spitzeldienste für das Verbrechersyndikat bleiben seinen Vorgesetzten nicht verborgen. Minami sieht sich genötigt, seine Handreichungen mit einem Nebel aus Auslassungen und Lügen zu verschleiern. Wie das nun mal so ist, verstrickt er sich immer weiter in seinem Lügengespinst, kann am Ende Freund und Feind nicht mehr von einander unterscheiden. Was ihn retten könnte, wäre ein Erfolg bei der Mördersuche, die er deshalb besonders motiviert verfolgt und die dann auch durch seine Mithilfe zur Identifizierung des Mörders führt. Doch für Minami ist damit der Fall nicht beendet. Er hat zu viele alte Wunden aufgekratzt und das sind hauptsächlich seine eigenen, deren Existenz er bisher verdrängt hatte. Die Kernaussage des Romans ist: "Niemand ist der, der er zu sein vorgibt...", das schließt Minami mit ein.

David Peace wäre nicht David Peace, wenn sein Roman ganz stringent einen roten Faden verfolgen würde. Es gibt zwar eine Handlungsebene, die einigermaßen chronologisch voranschreitet, doch der Hauptteil der Aktivitäten findet Kopf des Protagonisten Minami statt, dessen Gefühls- und Gedankenwelt alles andere als geordnet ist. Um dieses Chaos zu verdeutlichen, bedient sich der Autor einer Kombination aus Sätzen, Worten und immer wiederkehrenden Geräuschen, die auch im Schriftbild ihren Niederschlag findet.

In einem Kommentar an anderer Stelle wurde mal spekuliert, wie David Peace den 2. Weltkrieg darstellen würde: "Rattaatatatam-Peng-Peng-Ratatatam-Peng-Peng". Was die Kommentatorin als sarkastische Spitze gemeint hat, trifft so ziemlich den Nagel auf den Kopf. Peace minimalisiert da, wo er es für nötig hält und versucht gerne eine Stimmung, ein Gefühl, einen Gedanken lautmalerisch auf den Punkt zu bringen. So dominieren drei Geräusche den gesamten Plot. Da ist zum einen das monotone, allgegenwärtige "Ton ton ton" ein Hämmern oder Klopfen, das man anfänglich als Geräusch von Maschinen und Menschen bei der Arbeit deuten kann, das aber zunehmend bedrohlicher wird und das Hämmern der Gedanken in Minamis Kopf symbolisieren kann. "Chiku-taku, Chiku-taku" macht die Uhr, auch wenn sie stehen geblieben ist, imaginär ist oder gar rückwärts läuft – die Zeit schreitet immer voran.

Zuerst jucken die Läuse, er kratzt sich –"Gari-Gari "- es jucken die Gedanken, er kratzt sich –"Gari-Gari" – es jucken die alten Wunden, er kratzt sich –"Gari-Gari".

Das hört sich jetzt ein bisschen verrückt an, ist es auch, aber mir Absicht. Ein Phänomen kann sich einstellen: Man liest die Geräusche nicht mehr, man hört sie. Das ist schon faszinierend.

Man könnte Tokio im Jahre Null als ein Gesamtkunstwerk bezeichnen –ein Erlebnis für Auge, Ohr, Kopf, Bauch und Herz, wenn man sich auf ihn einlassen kann. Wenige Tage im Leben eines Mannes aus einer anderen Zeit, aus einer anderen Kultur, doch der Strudel seines Untergangs reißt den Leser mit sich. Es ist nicht die Identifikation mit dem Helden, die einen berührt, sondern Peaces Inszenierung.

Ein kleiner Wermutstropfen vielleicht für alle Nicht-Japaner ist die Fülle der Vor- und Zunamen, die sich nur schwerlich memorieren lassen – das kann aber auch am Alter des Rezensenten liegen.

Man kann schon gespannt sein auf den zweiten Teil der Trilogie, zu dem David Peace folgendes kommentiert:

"Ich wollte schon hinschmeißen, um meine Psyche zu retten"!

Tokio im Jahr Null

David Peace, Liebeskind

Tokio im Jahr Null

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