Der Knochenleser

  • Goldmann
  • Erschienen: Januar 2004
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  • New York: Putnam, 2003, Titel: 'Death`s acre: inside the legendary forensic lab the Body Farm where the dead do tell tales ', Seiten: 383, Übersetzt: Sebastian Vogel, Originalsprache
  • München: Goldmann, 2004, Seiten: 383, Übersetzt: Sebastian Vogel
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Michael Drewniok
85°1001

Krimi-Couch Rezension vonJun 2009

Eine Farm nur für die Toten

Knoxville im US-Staat Tennessee verfügt über eine bemerkenswerte Einrichtung, die jedoch nur wenige Besucher zu Gesicht bekommen. Die University of Tennessee hat hier 1971 die „Body Farm“ eingerichtet. Von Anfang an dabei war Dr. Bill Bass, ein forensischer Pathologe, der oft bei rätselhaften Leichenfunden als Berater zu Rate gezogen wurde. Dabei wurde er immer wieder mit der Tatsache konfrontiert, dass die Zeitspanne, die eine Leiche in einem Wald, einem Fluss oder unter dem Fundament eines Hauses gelegen hatte, nicht präzise festgestellt werden konnte: Niemand wusste wirklich, wie der Prozess der Verwesung ablief.

Aus offensichtlichen Gründen schreckten selbst Wissenschaftler vor Forschungen auf diesem Gebiet zurück. Nur eine besondere Sorte Mensch wagt sich dem Grauen zu stellen, in das Zeit, Feuchtigkeit und vor allem Insekten eine Leiche verwandeln. Bass ist ein solcher Mensch; zwar nicht immun gegen die unerfreulichen Seiten seiner Arbeit, aber mit genug Leidenschaft dabei, um das Notwendige anzugehen. Den letzten Anstoß gab ihm die hier offenherzig nacherzählte, in ihrer grausigen Komik äußerst unterhaltsame Episode mit einer kopflosen Leiche, die er in einer bizarren Verkettung unglücklicher Zufälle um mehr als ein Jahrhundert falsch datierte.

So richtete Bass jene Institution ein, die von den Medien später „Body Farm“ getauft wurde: Auf einem eingehegten Landstück wurden (und werden) Leichen auf den Waldboden oder in Pkw-Kofferräume gelegt, in Wasserbecken getaucht, flach oder tief begraben und dann in Ruhe der Fäulnis überlassen, wobei dieser Vorgang detailliert in Wort und Bild festgehalten wird. Damit gewinnt man Vergleichsdaten, die es ermöglichen Leichen zu ‚entschlüsseln‘, um so Todesursachen und -zeitpunkte zu fixieren.

Leichenforschung: kein makabres Gruselwerk

Dass die Arbeit der Leichenfarm nicht Voyeure be- und Igittisten entgeistert, sondern von Wert für die kriminologische Alltagsarbeit ist, weiß Bass anschaulich zu belegen. So manchem Mörder konnte er ins Handwerk pfuschen, bevor dieser allzu sehr in Serie ging. Auch in der Archäologie sowie in allen Wissenschaften, die an den Überresten von Menschen forschen, weiß man die Erkenntnisse zu schätzen, die Bass und seine magenstarken Kolleginnen und Kollegen ihren stinkenden Versuchspersonen entlocken.

Mit den Schilderungen berühmter oder ‚nur‘ interessanter Fälle, an denen er forensisch beteiligt war, verknüpft Bass seine Lebensgeschichte. Beides erklärt einander, so dass Bass es nie nötig hat, in regelmäßigen Abständen einen neuen Gruselkadaver ins Geschehen zu bringen, um den gelangweilten Leser zu fesseln. „Der Knochenleser“ ist eine Biografie mit rotem Faden, keine kunterbunte Sammlung aberwitziger Anekdoten. An denen spart der Verfasser nicht, aber er stellt sie in den Dienst einer Geschichte, die dadurch auch zur Historie der (US-) Forensik wird.

Weil Bass dabei das Persönliche nicht scheut, stellt er sich auch der verständlichen Frage, wie ein Mensch diese Arbeit leisten kann. Unausgesprochen steht sie während der Lektüre immer im Raum. Die Labor- und Feldgeschichten sind spannend, sogar faszinierend, dazu witzig, aber dennoch ... wie schafft der Mann es, Tag für Tag mit grässlich anzusehenden Leichen umzugehen, ohne darüber verrückt zu werden?

Sinn im Grässlichen

Die Antwort ist einfach - oder typisch amerikanisch: Es gibt ein höheres Ziel und damit einen Sinn in dieser Tätigkeit. Bass sieht sich als Wissenschaftler, d. h. als Kopf-Mensch, der den Verstand an- und den Bauch (und die Nase) abschaltet, sobald ein Job - die Identifizierung und Untersuchung eines Kadavers - ansteht. Er gibt besagter Leiche, die einst ein Mensch war, der unter ungeklärten Umständen das Leben verlor, seine Identität, seine ‚Stimme‘ zurück: Wenn er, Bill Bass, nicht klärt, was zum Zeitpunkt des Todes geschah, kommt ein Mörder davon und kann seine Tat womöglich wiederholen.

Mr. Bass gehört dennoch einem besonderen Menschenschlag an! Möglicherweise ist es auch sein Sinn für Humor bzw. die Absurditäten des Lebens und des Todes, die ihn zu seiner Arbeit befähigen. Negativ-Kritiker werden es ankreiden, dass er es manchmal am vorgeblich gebotenen Ernst mangeln lässt. Generell gilt, was viele Bürger von Knoxville denken: Macht es, wenn es denn sein muss, aber schweigt darüber! Doch Bass ist stolz darauf, was er mit seinem Team geschafft hat.

Die „Body Farm“ ist spätestens seit Anfang der 1990er Jahre in aller Munde, als sie hohen Besuch bekam: Die ehemalige Forensikerin und spätere Schriftstellerin Patricia Cornwell besuchte Knoxville und ließ sich von Bass in die Geheimnisse der „Farm“ einweihen, die sie anschließend in einen ihrer enorm erfolgreichen Kay-Scarpetta-Romane („The Body Farm“; dt. „Das geheime ABC der Toten“) einfließen ließ. (Sie revanchiert sich mit einem Vorwort zu diesem Buch.) Seitdem genießt der seltsame Ort fast schon zu viel Publicity; sogar Pfadfindergruppen fragten schon nach Führungen nach ¼

Medien & Maden arbeiten gut zusammen

„Der Knochenleser“ beinhaltet zwei Fotostrecken, die sich glücklicherweise nur in Andeutungen dessen ergehen, was der Verfasser im Text überaus drastisch beim Namen nennt. Der optische Eindruck davon, was den Alltag des Dr. Bass ausmacht, steigert allerdings die Bewunderung für das, was er leistet. Seien wir ehrlich: Möchten wir wirklich die Fotos vom Hinterhof jenes pflichtvergessenen Bestatters sehen, der ‚seine‘ Leichen nicht urnengerecht verbrannte, sondern sie zwischen Waldbäumen stapelte, in Schrottautos stopfte oder anderweitig ‚entsorgte‘ - 339 Stück!

Da kam es bei der Identifizierung zu unerfreulichen Wiedersehensszenen zwischen Familienangehörigen, von denen die Lebenden die Toten längst in der Urne auf dem heimischen Kaminsims wähnten ¼ (Das US-Fernsehen griff den „Tri-State Crematory Scandal“ von 2002 für denkwürdige Episoden der Erfolgsserien „CSI: Miami“ und „Law & Order: Criminal Intentions“ auf.)

So sind wir Dr. Bass dankbar, dass er in klaren Worten, aber nicht gar zu krass über seine Arbeit informiert; darüber hinaus müssen und wollen wir nicht alles wissen! Das überlassen wir den Spezialisten, die solche Kenntnisse anwenden müssen. Dank Bill Bass (wohltuend unterstützt vom wortgewandten Journalisten Jon Jefferson) ist nun klar, dass dieser Job keine Horde ghulischer Frankensteine erfordert, sondern Menschen mit Hirn, Herz & stählernen Nasen!

Fazit

Dem düsteren und wahrlich unappetitlichen Thema zum Trotz erzählt Bass nicht nur informativ und sachlich, sondern spannend und mit trockenem Humor, was sein Werk weiterhin zu einem „True Crime“-Sachbuch der besseren & lesenswerten Sorte macht.

Der Knochenleser

Jon Jefferson, Bill Bass, Goldmann

Der Knochenleser

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