Der steinerne Affe

  • Heyne
  • Erschienen: Januar 1979
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  • London: Hodder & Stoughton, 1938, Titel: 'The stoneware monkey', Seiten: 288, Originalsprache
  • München: Heyne, 1979, Seiten: 127, Übersetzt: Hanna Groll
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Michael Drewniok
80°1001

Krimi-Couch Rezension vonJun 2009

Plumpe Kunst und raffinierte Morde

London, 1930: Gerade hat der junge Arzt James Oldfield seine neue Praxis im Stadtteil Marylebone übernommen, als ihn ein Nachbar um Beistand bittet. Der Kunsttöpfer Peter Gannett klagt über heftige Leibschmerzen. Als die Behandlung nicht anschlagen will, fragt Oldfield einen alten Mentor, den Gerichtsmediziner und Kriminologen Dr. James Thorndyke, um Hilfe. Dieser erkennt sogleich die Symptome einer Arsenvergiftung.

Gannett, der nach dieser Diagnose rasch gesundet, nennt seinen Partner, den Kunstschmied Frederick Boles, als Hauptverdächtigen. Mit dem einstigen Freund arbeitet er zwar noch zusammen, aber man hat sich überworfen. Die Polizei will Gannett indes nicht alarmieren, sondern zukünftig besser auf seine Gesundheit achten.

Verblüfft über diese seltsame Entscheidung und nichts Gutes ahnend, wird Oldfield einige Zeit später von Gannetts Frau um Rat gefragt. Nach einem allein an der See verbrachten Urlaub fand sie das Haus bei ihrer Rückkehr verlassen vor. Gannett ist verschwunden. Im Brennofen seiner Werkstatt findet Oldfield Asche und menschliche Knochenreste, die einen hohen Arsengehalt aufweisen: Offensichtlich ist der Künstler einem Mord zum Opfer gefallen. Als Hauptverdächtiger gilt der ebenfalls verschwundene Boles.

Dr. Thorndyke scheinen die Indizien allerdings mehrdeutig. Zum Erstaunen seines Kollegen Oldfield interessiert er sich sehr für die Werke des Töpfers, unter denen ein aus Ton gefertigter Affe besonders scheußlich hervorsticht. Diese Figur wird zum Schlüssel eines raffiniert eingefädelten Komplotts, das nicht mit Gannetts Ende, sondern mit einem ungelösten Diamantenraub und einen Polizistenmord begann ...

Ein langer Mord erfordert geduldige Ermittler

Zum 25. Mal jagt Dr. Thorndyke einen raffinierten Verbrecher. Von "Jagd" zu sprechen ist hier freilich ironisch gemeint, denn nichts könnte dem durch und durch organisierten Kriminologen ferner sein als eine Verfolgung über Stock & Stein. Thorndykes Domänen sind sein Labor und sein Kanzleizimmer. Er ist bedächtig, sorgfältig, ganz Intellekt und emotional bewusst zurückhaltend. Die Überführung eines Mörders bereitet ihm Vergnügen, aber er fürchtet die Konsequenzen: Im England des Jahres 1930 erwartet einen Mörder der Strang. Mit diesem Aspekt der Polizei- und Gerichtsarbeit möchte Thorndyke nichts zu tun haben: "Die Verfolgung war interessant, aber die Verhaftung hätte ich lieber der Polizei überlassen." (S. 128)

Dem Wesen des Ermittlers angemessen ist Der steinerne Affe als Krimi eine recht statische Angelegenheit. Der Fall ist sorgfältig ausgetüftelt und wird gekonnt umgesetzt - gekonnt oder womöglich allzu routiniert, denn Freeman hat sich des ´verschleppten´ Verbrechens, das sich aus zeit- und örtlich zunächst isolierten Ereignissen fügt, als Plot schon oft bedient. Er funktioniert auch dieses Mal, und dies vor allem dann, wenn man das Wissen um genannte Routine verdrängt.

Klassischer oder erstarrter Krimi?

Der steinerne Affe ist ganz und gar klassisches Krimi-Handwerk. Thorndyke ist nicht nur Zeitgenosse, sondern 1939 auch einer der letzten Überlebenden der Sherlock-Holmes-Ära. Das merkt man ihm vielleicht ein wenig zu deutlich an. Am Vorabend des II. Weltkriegs ist der Gentleman-Ermittler keine zeitgemäße Figur mehr. Der "Whodunit" hatte dennoch seine Nische gefunden, doch während diesseits und jenseits der Atlantik angelsächsische Autoren wie Agatha Christie oder Ellery Queen weiterhin ihr Publikum fesselten, haftet Freemans Thorndyke-Geschichten ein deutlicher Beigeschmack von Laternengas an.

Weil Freeman selbst um das Verfallsdatum seiner Figur wusste, hat er die Geschichte vom steinernen Affen in eine ´unschuldige´ Vergangenheit zurückdatiert. Sie spielt 1930, als die Nazis und der Weltkrieg nur ungewisse Befürchtungen darstellten. Tatsächlich ist es schwierig, einen Unterschied im englischen Alltagsleben zu erkennen, wie ihn Freeman in seinen frühen Thorndyke-Romanen darstellt. Seit 1910 scheint für ihn keine Zeit verstrichen zu sein.

Das trifft freilich nicht auf die kriminologische Entwicklung zu. In diesem Punkt war Freeman stets auf der Höhe der Zeit. Seine "police procedurals" entsprechen der zeitgenössischen Realität. So erfahren wir dieses Mal, dass Scotland Yard bereits 1930 eine Datei für Fingerabdrücke führte. Ebenfalls "CSI"-Format haben Freemans penible Indizienauswertungen. Der Mörder verbrennt sein Opfer zu Asche und vertraut darauf, dass eine Identifizierung danach unmöglich ist: eine Herausforderung, die eines Gil Grissoms oder Horatio Caines würdig ist. John Thorndyke weiß sich problemlos in ihre Reihen einzugliedern. Ein kluger Kopf kann mit entsprechendem Wissen auch 1930 das perfekte Verbrechen verhindern.

Verbrechen als Summe zu ermittelnder Fragmente

Die Streckung der Ereignisse über mehr als ein Jahr nimmt deutlich Tempo aus der Handlung. Auf der anderen Seite entspricht sie der Realität: Die Lösung eines komplexen Falls kann sich durchaus über längere Zeit hinziehen. Indizien bieten sich dem Detektiv nicht immer als Puzzle dar, dessen Steine nur in die korrekte Ordnung gebracht werden müssen. Freeman hat den sprichwörtlichen Mut zur Lücke: Zwischen den beiden Morden seiner Geschichte existiert zunächst keine Verbindung. Sie ergibt sich erst nachträglich und knüpft sich zum roten Faden eines beachtlichen Kapitalverbrechens.

Dieser Prozess wird von Freeman akkurat nachgezeichnet. Das zu beurteilen fällt dem Leser leichter als den Protagonisten, denn er wird vom Verfasser so geführt, dass ihm die Zusammenhänge deutlich werden, während die Protagonisten noch im Dunkeln tappen. Zum "Wer war es?" tritt bei Freeman das "Wie geschah es?" Diese Doppelung sorgt für eine Spannung, die man - sich dabei an der Figur des Dr. Thorndyke orientierend - als ´intellektuell´ bezeichnen kann: Sie benötigt keine vordergründigen Effekte, sondern basiert auf Fakten.

Gänzlich ohne dramatische Akzente bleibt "Der steinerne Affe" aber nicht. Allerdings wirken die entsprechenden Szenen eher der Publikumserwartung geschuldet. Zum eigentlichen Geschehen passen sie nicht. Vom ersten Mord erfahren wir die Einzelheiten nur im Rückblick und indirekt durch Zitate aus Polizei- und Gerichtsprotokollen. Mord Nr. 2 bleibt gänzlich unkommentiert; auch im großen Finale äußert sich Thorndyke nur dezent über die grausame Tat; dies waren halt noch andere Zeiten.

Der Kampf mit dem überführten Mörder wirkt deshalb einerseits übertrieben und endet andererseits altmodisch. Ein ganzes Museum geht zu Bruch, während Polizei und Detektiv mit dem herkulischen (bzw. im plötzlichen Wahn Bärenkräfte entwickelnden) Schurken ringen, den schließlich das Schicksal und nicht das irdische Gericht verurteilen wird. Dieses Ende bewahrt die Beteiligten = unschuldigen Angehörigen von Opfer und Täter vor der Offenlegung auch für sie nicht immer ehrenvoller Fakten: Freeman ist hier noch ganz Viktorianer, der den Ruf über die Wahrheit stellt, die zwar gewahrt werden muss aber durchaus vertuscht werden darf. Die Hauptsache ist, dass der kleine Kreis der Ermittler und der Leser sie kennt. Damit mögen Thorndyke und Freeman richtig liegen, und die nostalgische Unterhaltsamkeit des "Steinernen Affen" leidet unter solchen Anwandlungen zumindest heutzutage nicht mehr.

Was stärker schmerzt, ist eine (allerdings immer noch lesbare) deutsche Übersetzung, die gegenüber dem Originaltext weniger als die Hälfte der Seitenzahl aufweist. So eine rüde Behandlung hat Dr. Thorndyke ganz sicher nicht verdient!

Der steinerne Affe

R. Austin Freeman, Heyne

Der steinerne Affe

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