Blut und rote Seide

  • Zsolnay
  • Erschienen: Januar 2009
  • 3
  • Wien: Zsolnay, 2009, Seiten: 384, Übersetzt: Susanne Hornfeck
  • New York: St. Martin´s Minotaur, 2007, Titel: 'Red Mandarin Dress', Originalsprache
  • München: dtv, 2011, Seiten: 376
Blut und rote Seide
Blut und rote Seide
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Jochen König
88°1001

Krimi-Couch Rezension vonJan 2009

Mit Charme und großer Anteilnahme, spannend, analytisch und eloquent geschrieben

Vor dem Shanghaier Konservatorium entdeckt der verdiente Arbeiter Huang an einem Freitag die Leiche einer jungen Frau. Bekleidet lediglich mit einem roten Qipao, jenem tailliert geschnittenen Seidenkleid, das in China lange Zeit als Zeichen westlich orientierter Dekadenz galt, andernorts aber als Sinnbild asiatischer Eleganz gesehen wird, liegt sie dort wie ausgestellt. Eigentlich ein Fall für Oberinspektor Chen. Doch der hat sich gerade freistellen lassen, um seine literarischen Studien fortzuführen und eine Arbeit über die Rolle der femme fatale in der chinesischen Literatur zu schreiben. So ermittelt in erster Linie sein Kollege Hauptwachtmeister Yu. Auch als zwei weitere Frauenleichen jeweils Freitags an öffentlichen Plätzen auftauchen, hält sich Chen bedeckt und ermittelt nur im Hintergrund. Erst nach einem Nervenzusammenbruch und dem Auftauchen der vierten Toten nimmt er die Ermittlungen explizit in die Hand. Und sein Literaturstudium erweist sich dabei als durchaus hilfreich.

Ein Serienmörder versetzt Shanghai in Angst und Schrecken. Was im dekadenten Westen gang und gäbe ist, ist im sozialistischen China ein Unding. Aber es ist nun mal Fakt, dass etwas nicht wahrzunehmen nicht heißt, dass es nicht existiert. Vor allem wenn Parteifunktionäre die Wahrnehmung bestimmen. Qiu bringt das im bewegenden Finale unverblümt zur Sprache: "Jemand [...] hat mir erzählt, dass wir im Zeitalter sich wandelnder Perspektiven leben. Und aus jedem Blickwinkel stellen sich die Dinge anders dar. Er vergaß jedoch hinzuzufügen, dass derjenige, der die Macht hat, auch die Sichtweise festlegt."
Was den Ausgangspunkt der Handlung angeht, unterscheidet sich Blut und rote Seide nicht von Dutzenden anderer Romane, die das blutige Werk eines Serienmörders verfolgen.

Vier Frauen werden getötet, auf Aufsehen erregende Weise drapiert und in der Öffentlichkeit zur Schau gestellt. Der Täter scheint sexuell motiviert und psychisch gestört. Doch damit enden alle Gemeinsamkeiten. Nicht nur, dass Psychoanalyse fast einem Schimpfwort gleich kommt und erst langsam Einzug in die Arbeit der chinesischen Polizisten findet (so ist der "Ödipuskomplex" für Hauptwachtmeister YU völlig unbekanntes Terrain). Auch lässt sich die Deformation, die den Ausgangspunkt der Mordserie darstellt, zurück verfolgen bis in die finstersten Zeiten der chinesischen Kulturrevolution. In den 60ern konnten die beflissenen Schergen Mao Ze Dongs, unter dem Deckmantel des Klassenkampfes, brutalste Verbrechen nach eigenem Gusto begehen, ohne (vorerst) Strafe befürchten zu müssen.

So entsteht das Bild eines sich ständig wandelnden Chinas, in dem persönliche Zusammenbrüche oft politisch begründet und nur allzu nachvollziehbar sind. So bekommt der Täter ein Gesicht, eine Biographie und am Ende sogar gelindes Verständnis. Das ist mehr, als ihm auf westlicher Seite gemeinhin zugestanden wird.

Das "verstehen wollen" von Zusammenhängen ein wichtiger Bestandteil des Romans. Schon angelegt im außergewöhnlichen Polizisten Chen Cao, der seiner Polizeikarriere die Literaturwissenschaft entgegensetzen möchte, damit sich sein Yin und Yang komplettieren. Erfolgreich ist er in beidem und im Verlauf der Ermittlungen stellt er fest, dass beide Welten bisweilen untrennbar miteinander verbunden sind. Geradezu klassisch lädt er den Hauptverdächtigen zu einer letzten Konfrontation ein, um ihm ein Geständnis zu entlocken. Dabei benutzt er sein literarisches Ansehen als Lockmittel und nicht seine Polizeibefugnisse.

Die Geschichte des Mörders wird zur Diskussionsgrundlage über Wahrnehmung, politisches Kalkül und die Wunden, die die Strafaktionen eines drakonischen Unrechtsregimes hinterlassen. Begleitet von einem "grausamen" Mahl - dessen Zusammenstellung manch zartbesaiteter Seele leicht auf den Magen schlagen kann -, drängt Chen seinen Verdächtigen in eine Ecke, aus der es kein Entkommen gibt; und verschafft ihm trotzdem die Möglichkeit einer Lösung, die alle Beteiligten das Gesicht wahren lässt. So verweigert sich Qiu Xialong auch im Finale der Anwendung plumper Mittel. Es gibt keinen blutigen Showdown, keine hasstriefende Verurteilung, sondern ein Ende mit Würde.

Mit Blut und rote Seide hat Qiu Xialong einen spannenden, analytischen und eloquent geschriebenen Einblick in komplexe Zusammenhänge verfasst. Denn mit und neben dem Hauptstrang der Erzählung gibt es kluge Anmerkungen und Einsichten in den politischen und kulturellen Wandel Chinas der letzten fünfzig Jahre. Qiu gelingt dies ohne oberlehrerhafte Attitüde oder moralisch erhobenen Zeigefinger, er führt seine Figuren mit Charme und großer Anteilnahme durch den Roman, so dass am Ende deutlich wird, dass sowohl die Kulturrevolution wie der parteilich geförderte Kapitalismus eins gemein haben: es gibt zu viele Opfer, die auf der Strecke bleiben. Dank Chen Cao, seinen Freunden und Mitarbeitern wird aber wenigstens ein paar von ihnen Gerechtigkeit widerfahren.

Blut und rote Seide ist ein Roman der weit über das Gerüst seiner Kriminalhandlung hinausweist. Ein scharfsinniger Exkurs über Tradition und Moderne, über das Leben in einer Metropole, die schneller wächst und sich verändert, als die Menschen, die sie bewohnen. Qiu Xialong zeigt, welche Wunden eine Gesellschaftsform reißt, die freie Entfaltung unterdrückt. Auf welche Weise auch immer.

Dass es beiläufig noch Wissenswertes über Filme, "K-Mädels", chinesische Literatur und sehr spezielle Essgewohnheiten zu erfahren gibt, ist in gebratenen Spatzenzungen nicht aufzuwiegen.

Wir verneigen uns in Demut und bestätigen, was ein weiser Mann sagt: "Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als in einem Fallbericht stehen."

Blut und rote Seide

Xiaolong Qiu, Zsolnay

Blut und rote Seide

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