Kabine B 55
- Goldmann
- Erschienen: Januar 1953
- 2
- London: Hutchinson, 1948, Titel: 'Death on the Trooper', Originalsprache
- München: Goldmann, 1953, Seiten: 204, Übersetzt: Werner v. Grünau, Bemerkung: Goldmanns Kriminal Romane K 68
- München: Goldmann, 1959, Seiten: 181, Übersetzt: Werner v. Grünau, Bemerkung: Goldmanns Taschen-Krimi Nr. 172
Perfekter Mord unter 8000 Augen
Noch viele Monate nach dem Ende des II. Weltkriegs ist im indischen Raum die Demobilisierung britischer Truppen in vollem Gange. Nach Jahren des Kampfes werden die Soldaten möglichst kostengünstig über das Meer nach England transportiert. Die vorhandenen Schiffe sind diesem Ansturm kaum gewachsen. Auch die "Kumassi", eigentlich ein Frachtschiff mit nur wenigen Passagierkabinen, ist mit 4000 Passagieren an Bord völlig überbelegt, als sie den Hafen von Colombo auf der Insel Ceylon verlässt.
Die Insassen von Kabine B 55 können noch froh sein, dass man sie ´nur´ zu sechst in dem winzigen Raum zusammengepfercht hat. Während fünf Bewohner sich genügsam in ihr Schicksal fügen, verursacht Reedereidirektor Archibald Bickerton großen Ärger, als er - vergeblich - eine Einzelkabine fordert. Auch sonst macht sich der arrogante und streitsüchtige, zudem dem Trunk ergebene Mann allseits unbeliebt.
Dennoch ist der Schreck groß, als Bickerton unter verdächtigen Umständen tot aufgefunden wird. Da es an Bord der "Kumassi" keine Kriminalpolizei gibt, übernimmt Roger Crammond aus Kabine B 55 im Auftrag von Kapitän McIvor die Ermittlungen. Crammond, eigentlich Meeresbiologe, hat als Amateurdetektiv gewisse Erfahrung. Hier und jetzt sieht sich vor das Problem gestellt, auf einem mit Menschen vollgestopften Schiff einen Mörder ausfindig zu machen. Die Fahndung wird durch die Tatsache erschwert, dass Bickerton sich in Indien zahlreiche Feinde gemacht hat, von denen Crammond viele auf der "Kumassi" wiederfindet; wie sich herausstellt, teilt er mit einigen sogar die bewusste Kabine B 55. Auch sonst mangelt es nicht an Verdächtigen. Während der cholerische McIvor auf einen raschen Fahndungserfolg dringt, lässt sich Crammond, der Wissenschaftler, Zeit und geht systematisch vor. Das sichert ihm zwar gewisse Fahndungserfolge, doch es lässt auch dem Mörder genug Zeit einen Plan zu entwickeln, wie er sich des lästigen Schnüfflers entledigen kann ...
Eine Seefahrt, die ist tödlich
Zum zweiten Mal muss Roger Crammond einen Mordfall aufklären. Als Kriminalist ist er nicht unbedingt geeigneter als die Männer und Frauen in seiner Begleitung. Zur Zeit dient er noch als Soldat, aber eigentlich ist er Meeresbiologe. Sowohl sein Dienst als auch später sein Beruf führen ihn immer wieder an entlegene Orte dieser Welt. Geschieht dort ein Verbrechen, liegt die nächste Polizeistation in der Regel sehr weit entfernt. Einer muss sich dann der Untat annehmen, und das ist - von seinem geistigen Vater mehr oder weniger unauffällig in diese Rolle gedrängt - Roger Crammond.
Der Schauplatz des aktuellen Geschehens ist erneut ebenso reizvoll wie ungewöhnlich. Mordfälle auf Schiffen sind im Krimi nicht ungewöhnlich; zu verlockend ist ein durch viel tiefes Wasser von der Außenwelt isolierter Tatort, der die Zahl der Verdächtigen auf Passagiere und Besatzung beschränkt. (´Faire´ Autoren lassen jedenfalls keine Meuchler aus den Wogen steigen.) Muir verwandelt diese Kulisse in ein Tollhaus: Auf der "Kumassi" belegen 4000 Reisende buchstäblich jeden Winkel des Schiffes. Wie kann unter diesen Umständen ein Mord unbeobachtet bleiben? Und wie soll auf der anderen Seite ein Kriminalist in diesem Durcheinander Spuren sichern? Der Täter verschwindet in der Menschenmenge. Bis die "Kumassi" ihren Zielhafen erreicht, ist eigentlich kaum mit einer Klärung des Falls zu rechnen.
Doch Crammond ist ein findiger Zeitgenosse. Er ist es gewohnt, den flüchtigen Objekten seiner Begierde - meist handelt es sich um Plankton und anderes Meeresgetier - energisch hinterher zu spüren. Sein wissenschaftliches Vorgehen überträgt er auf die Ermittlungen. Im richtigen Moment wird sein Vorgehen handfest; davon kündet spätestens der Kampf auf Leben und Tod mit dem verzweifelten Mörder.
Endzeit der großen Rätselkrimis
"Kabine B 55" ist ein Roman, der stärker als andere Krimis an seine Entstehungszeit gebunden ist. Die großen Truppentransporte, die Muir als Hintergrund für seine Geschichte nutzt, nahmen vergleichsweise rasch ihr Ende, als die demobilisierten Soldaten heimgekehrt waren. 1947 war es mit der Jahrhunderte währenden Britenherrschaft über Indien vorbei; ein Jahr später wurde die Insel Ceylon (heute Sri Lanka) unabhängig.
Dadurch spielt dieses Buch historisch, aber auch literarisch in einer Art Vakuum. Als Krimi ist "Kabine B 55" ein klassischer "Whodunit". Ein (scheinbar) perfekter Mord geschieht, und niemand kann und will die Untat begangen haben. Alle Alibis wirken wie in Erz gegossen, kaum jemand mag überhaupt an ein Verbrechen glauben. Nur ein Skeptiker stellt sich der ungläubigen Mehrheit entgegen. Roger Crammond sucht und findet nicht nur die losen Enden dieses Falls, sondern er bringt Mann für Mann, Frau für Frau die Skeptiker auf seine Seite.
Das ist richtig inszeniert trotz des standardisierten Vorgehens immer eine spannende Sache. In unserem Fall kommt der Schauplatz hinzu. Die "Kumassi" ist kein luxuriöser und riesiger Ozeandampfer, sondern ein relativ kleines Schiff, auf dem es chaotisch zugeht. Thomas Muir ist mit dieser Szenerie offenkundig sehr vertraut. Die wenigen biografischen Angaben über den Verfasser deuten darauf hin, dass er selbst zur See fuhr und in der Royal Navy diente. Die Beschreibungen der Verhältnisse an Bord bestechen deshalb durch ihre Anschaulichkeit, und sie werden geschickt eingesetzt, um dem kriminellen, aber auch dem kriminalistischen Geschehen eine besondere Wendung zu geben.
Männer der Tat, Frauen auf der Jagd
"Kabine B 55" gibt sich auch in der Figurenzeichnung als angelsächsischer "Whodunit" zu erkennen. Nur Roger Crammond wirkt recht ´modern´ und beinahe fremd in einer Schar exzentrischer Zeitgenossen, die sich so auch in jedem englischen Landhaus tummeln könnten, in dem je ein Mord geschah. Da gibt es den knurrigen Soldaten der alten Schule (Oberst Stark), den kühnen Ingenieur, der die koloniale Wildnis zähmt (John Grayson), den kuriosen (und bigotten) Missionar, der den ´Heiden´ einheizt (Fenton Hale) oder die schöne aber undurchsichtige Abenteuerin (Mrs. Langford).
Hinzu treten die Vertreter der (Kriegs- und Handels-) Marine, die buchstäblich mit allen Wassern gewaschen sind und sich als bärbeißige Seebären ("McIvor sparte nicht mit kräftigen Ausdrücken, an denen die Sprache der Seeleute ja nicht arm ist.", S. 178) oder raubeinige Matrosen ("Elf Gesichter spiegelten die Anstrengung konzentrierten Überlegens in verschiedenen Graden wider.", S. 140) alle Mühe geben, einschlägige Klischees mit Leben zu erfüllen. Der trockene Humor sorgt dafür, dass solche Szenen ihre bewährte Wirkung voll entfalten können.
Eine Sache hat der Krieg geändert: Frauen greifen deutlich aktiver in die Handlung ein. Wenn die weiblichen Passagiere sich in diesem Roman von 1948 in der Tropenhitze der meisten Kleidung entledigen, ist es nur mehr der verklemmte Fenton Hale, der sich darüber aufregt. Sogar der reizbare Kapitän McIvor nimmt die Offenherzigkeit ungemein gelassen auf; es gäbe an Bord genug echte Gründe zur Sorge, fertigt er knapp den schockierten Missionar ab.
Auch sonst lassen sich die Frauen, die nicht selten selbst gedient haben, nicht mehr zur Seite schieben. Sie werden umworben und erwidern dies durchaus selbstbewusst. Crammond hat große Mühe, sich der energischen Vera Niven zu entziehen. Damit er keine lächerliche Figur abgibt, konstruiert ihm Muir eine tragische Vorgeschichte als untröstlicher Witwer, was seine Kaltblütigkeit letztlich erklärt.
In den Kreis der ehrenwerten und selbstbewussten Frauen haben es die Bewohnerinnen des indischen Subkontinents dagegen nicht geschafft. Sie werden durchweg als zwar "hübsche Käfer" aber flatterhafte, der Moral abholde, sondern sie unterminierende und brave britische Männer ins Verderben stürzende Verderberinnen geschildert: eine unschöne Erinnerung an ein zeitgenössisches Weltbild, das Muir mit "Kabine B 55" unfreiwillig offen konserviert.
Dem insgesamt positiven Eindruck können solche Tiefschläge indes nicht schaden. "Kabine B 55" ist kein Klassiker seines Genres. Als Krimi funktioniert dieser Roman aber ausgezeichnet, der Freund des eher gemächlichen aber gründlichen Fahndens wird auf seine (oder ihre) Kosten kommen. Deutlich angestaubt ist zwar die deutsche Übersetzung, aber daran gewöhnt man sich, denn sie ist gut und unterstützt schließlich das im positiven Sinn altmodische Lesevergnügen.
Thomas Muir, Goldmann
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