Der Hund der Baskervilles
- Erschienen: Januar 1902
- 63
Diese zweite Sammlung klassischer Sherlock Holmes-Kurzgeschichten gilt der Literaturkritik und vielen Lesern noch einmal als Höhepunkt der Serie. Arthur Conan Doyle hat das Gleichgewicht zwischen Können und Routine gefunden, er kennt seine Helden Holmes und Watson inzwischen gut, und er weiß, wie er mit ihnen umzugehen hat. Sehr angenehm war für den allzu lange vom Wohlstand gemiedenen Doyle zudem das seit den "Abenteuern des Sherlock Holmes" noch einmal sprunghaft angestiegene Honorar, welches das "Strand Magazine" ihm für diese neuen Geschichten zahlte.
Freilich wurde sich Doyle bei der Niederschrift eines generellen Problems bewusst: Die Welt des Sherlock Holmes ist eigentlich eine recht eng begrenzte. Ohne gravierende Veränderungen des Charakters - was schon von den zeitgenössischen Lesern nur ungern gesehen wurde - mussten sich die Holmes-Geschichten inhaltlich zwangsläufig rasch wiederholen. Man merkt es u. a. an den zum Ritual erstarrtem Ratespielchen zwischen Holmes und Watson, die fast jeden neuen Fall einleiten oder ihn irgendwann begleiten.
Auswege aus dem Holmes-Getto
Doyle bemüht sich um behutsam um Auswege aus dem Holmes-Getto. In "Die ´Gloria Scott'" und "Das Musgrave-Ritual" lässt er Sherlock Holmes und nicht Dr. Watson berichten. Eine glückliche Lösung ist dies nicht; das ´Gloria Scott"-Rätsel ist höchstens interessant als freimütiges Geständnis eines von seiner späteren Form noch weit entfernten Jungkriminalisten, der oft irrt, aber schon geniale Züge entwickelt. "Das Musgrave-Ritual" ist im Grunde eine Schauergeschichte (wie übrigens auch "Das gelbe Gesicht"), die dem Verfasser freilich sehr unterhaltsam gelungen ist. Trotzdem vermisst man auch hier den treuen Watson an Holmes´ Seite.
"Silberstern" gehört zu den wenigen Ausnahmen und kann auf der ganzen Linie überzeugen. Die Idee ist originell (wenn auch heute kaum mehr überraschend) und wird schwungvoll entwickelt. "Der griechische Übersetzer" markiert einen weiteren Versuch, eingefahrene Geleise zu verlassen: Aus der Versenkung taucht plötzlich ein zuvor niemals erwähnter Bruder von Sherlock Holmes auf. Die Geschichte braucht ihn nicht, aber als Figur ist Mycroft sehr gut geraten und inzwischen ins Pantheon des Holmes-Universums eingezogen.
Witzige Hommage an Edgar Allan Poe
"Der Flottenvertrag" ist eine witzige Hommage an Edgar Allan Poes Story "The Purloined Letter" (1844, dt. "Der entwendete Brief"), die als ein Wurzelstrang der modernen Kriminalliteratur gilt und mit dem Deduktionsgenie Arsene Dupin einen echten Vorfahren von Sherlock Holmes präsentiert (obwohl dieser von Dupin nicht viel hält, wie Dr. Watson in "A Study in Scarlet" anmerkt).
"Das letzte Problem" stellt innerhalb der "Memoiren" einen deutlichen Bruch dar. Einmal abgesehen vom Aufsehen erregenden Ende des Sherlock Holmes gibt es faktisch keinen Grund, ausgerechnet Professor Moriarty als dessen Nemesis glaubhaft zu finden. Seit vielen Jahren versuchen abgefeimte Schurken Holmes ins Jenseits zu befördert. Ausgerechnet Moriarty ist dies nun gelungen? Dass es dazu eines "Napoleons des Verbrechens" bedarf, will der Leser Doyle gern glauben, aber trotzdem erscheint dieser in seinem bösen Genie ein bisschen zu unvermittelt auf der Bildfläche. Aber Doyle hatte genug von Sherlock Holmes und wollte ihn loswerden - durchaus spektakulär, aber kurz und schmerzlos.
Selbstzensur wegen "allzu sexueller Ausrichtung"
Übrigens umfasste der Zyklus der "Memoiren" ursprünglich wie die "Abenteuer" aus den Jahren 1891/92 zwölf Geschichten, die über genau ein Jahr liefen. Doch Doyle ließ "The Cardboard Box" ("The Strand", Januarausgabe 1893) für die Buchausgabe entfernen, weil ihm die "allzu sexuelle Ausrichtung" nachträglich missfiel. Der Blick in diese dadurch natürlich um so interessantere Story verrät, welchem Wandel die Moralvorstellungen seit damals unterworfen waren ... (Wer dies selbst nachprüfen möchte, kann dies unter www.textfiles.com/etext/AUTHORS/DOYLE/cardbox.txt sogleich tun.)
Weiter oben wurde es bereits angedeutet, hier wird es bestätigt: Grundsätzlich Neues hat uns Arthur Conan Doyle über Holmes - auch den jungen - und Watson nicht mehr zu sagen. Die Variation inzwischen leidlich bekannter Szenen ist noch nicht zum Selbstzweck der späten Holmes-Geschichten (etwa ab 1910) verkommen, aber das Webmuster schimmert doch bedenklich durch.
Die alte Magie funktioniert immer noch
Trotzdem funktioniert die alte Magie immer noch. Holmes & Watson sind ein wunderbares, grundverschiedenes, aber einander durchaus ebenbürtiges Team. "Die Memoiren ..." zeigen einen Sherlock Holmes, der zugänglicher wird, zum ersten Mal von seiner gar nicht so glanzvollen Jugend erzählt und sogar Familie hat.
Natürlich ist Mycroft Holmes der eigentliche Star der "Memoiren". Er ist seinem Bruder Sherlock sehr fremd und doch wieder sehr ähnlich. Man könnte ihn als den "Verantwortungsvolleren" der beiden bezeichnen, denn auch er hat zwar sein Hobby zum Beruf gemacht, ist aber in Staatsdiensten tätig, und das offenbar in recht hoher Position.
Sherlock und Mycroft als Team agieren zu sehen, bereitet nicht nur Dr. Watson großes Vergnügen. Ungeachtet aller zur Schau gestellten Gleichmütigkeit herrscht offensichtliche Zuneigung zwischen den Brüdern. Gleichzeitig konkurrieren sie ständig spielerisch miteinander, und das auf einem intellektuellem Niveau, das ihr Publikum mit offenem Mund staunen lässt.
Doyle investierte deutlich mehr Aufwand als sonst
Unter mysteriösen Umständen starb Sir Charles Baskerville, ein mächtiger (und mächtig reicher) Landadliger aus der Grafschaft Devonshire. Offenbar hat ihn der schwarze Geisterhund geholt, der nach einer alten Legende die Familie heimsucht, nachdem ein böser Urahn einst eine holde Maid zu Tode brachte. Über das nächtliche Moor hat er den armen Sir Charles gejagt, so sagen es die Spuren, bis dessen Herz in Todesangst stockte.
Nun übernimmt sein Neffe, der letzte Baskerville, das Erbe. Sir Henry lebte bisher in Kanada und kehrt ohne Vorahnung dessen, was ihn erwartet, in die Heimat seiner Ahnen zurück. Einen alten Freund treibt die Sorge, es könne ihm wie dem Onkel ergehen, nach London in die Baker Street Nr. 221b, wo der berühmte Meisterdetektiv Sherlock Holmes auf einen Fall wie diesen nur gewartet hat. Dass ihn die Vorfreude nicht getrogen hat, erweist sich bald, denn Sir Henry wird offensichtlich überwacht. Eine anonyme Warnung trifft ein, er solle sich vom Moor fernhalten, gleich zwei einzelne Schuhe werden ihm gestohlen, ein düsterer Verfolger gibt sich als Sherlock Holmes aus.
Dieser fühlt sich herausgefordert. Allerdings binden ihn zur Zeit wichtige Geschäfte in London. So schlägt Dr. Watsons große Stunde: Der Freund, Assistent und Chronist des Detektivs soll Sir Henry nach Devonshire begleiten, dort über sein Leben wachen und vor allem für Holmes recherchieren. Geschmeichelt schlägt Watson ein - und reist direkt in das Abenteuer seines Lebens. Baskerville Hall ist ein verwunschener Ort, einsam inmitten des tückischen Grimpenmoors gelegen. Ein falscher Schritt lässt den unvorsichtigen Wanderer sogleich versinken. Gar nicht weit entfernt steht das berüchtigte Zuchthaus Dartmoor. Gerade ist dort der verrückte Serienmörder Seldon ausgebrochen und hält sich im Sumpf verborgen. Watson überrascht das Dienerpaar Barrymore, das des Nachts heimliche Signale ins Moor schickt. Er schließt Bekanntschaft mit dem Naturforscher Stapleton und seiner schwermütigen Schwester. Dann entdeckt er, dass der Brief einer unbekannten Frau Sir Charles ins Moor gelockt hat ... Die Kette der Entdeckungen und Verwirrungen reisst nicht mehr ab. Watson raucht bald der Schädel. Getreulich meldet er alle Neuigkeiten nach London, doch wo bleibt Sherlock Holmes? Die Situation in Devonshire spitzt sich zu, als Watson einen weiteren Unbekannten entdeckt, der sich im Grimpenmoor verbirgt und Baskerville Hall nicht aus den Augen lässt. Den wird er fangen, schwört er sich, und legt sich auf die Lauer - um eine weitere Überraschung zu erleben ...
Der dritte der Sherlock Holmes-Romane ist sicherlich mit Abstand der beste. Während Arthur Conan Doyle mit Studie in Scharlachrot (1888) und Das Zeichen der Vier (1890) noch den langen Atem vermissen ließ, seinen Detektiv außerhalb der Kurzgeschichte agieren zu lassen, fand er nun endlich eine Möglichkeit, ihn über die volle Distanz eines Romans zu beschäftigen. Also keine endlosen Rückblenden und Nebenhandlungen mehr, die den Leser nicht wirklich interessieren, sondern Holmes pur, und das in einer Geschichte, die es wirklich in sich hat.
Vielleicht liegt es daran, dass Doyle ursprünglich Sherlock Holmes gar nicht auftreten lassen wollte. Kein Wunder, hatte er sich doch des Detektivs 1893 durch einen Sturz in die Reichenbach-Wasserfälle entledigt, um sich endlich der "ernsthaften" Literatur widmen zu können. Im Jahre 1901 machte der Autor Urlaub in Cromer, Norfolk. Bertram Fletcher Robinson, ein junger Journalist, der sich mit Doyle angefreundet hatte, erzählte ihm dort die Legende von einem unheimlichen Geisterhund, der in dieser Gegend sein Unwesen treiben sollte. Das setzte in Doyles Kopf einige Räder in Bewegung. Er beschloss, zusammen mit Robinson eine romantisch-schaurige Geschichte zu verfassen, die sich um einen alten Fluch auf eine Familie drehte, die ihr Domizil ausgerechnet am Rande eines finsteren Moors aufgeschlagen hatte.
Doyle, der sonst eher schnell als sorgfältig arbeitete, investierte in seine Recherchen deutlich mehr Aufwand als sonst. Noch 1901 besuchte er die Familie Robinson auf deren Landsitz in Devon. (Dort arbeitete ein junger Hausdiener namens - Henry Baskerville!) Von hier starteten Doyle und Robinson eine Reihe von Erkundungsfahrten ins nahe Dartmoor. In den nächsten Wochen legte das Duo die Orte ihres zunächst möglicherweise als Gemeinschaftsarbeit geplanten Romans fest. Für die pittoreske Vergangenheit, die im Grimpenmoor jeden Fußbreit mit einer seltsamen Anekdote belegt, bedienten sich Doyle und Robinson aus den Werken des Reverends Sabine Baring-Gould (1834-1924). Hier entlieh Doyle auch die bedrückend schwermütige Atmosphäre, die er über die Geschichte vom Hund der Baskervilles legte.
Diese schrieb Doyle schließlich allein. Lange hat ihm die Kritik nachweisen wollen, als Autor von Robinson vertreten worden zu sein oder diesen um seine Mitautorenschaft betrogen zu haben. Tatsächlich ist "Der Hund der Baskervilles" Doyles ureigenes Werk, in das er viel Herzblut investierte. Noch heute ist seine Schilderung des Moors der Stempel, der einer eigentlich recht prosaischen, kargen Landschaft aufgeprägt wurde, die dadurch ein dramatisches, symbolträchtiges Image gewann: das wilde Moor als Spiegelbild der primitiven Seiten der menschlichen Seele, bewohnt von dunklen Gestalten aus dem Schattenreich.
Wer konnte einen solchen Höllenpfuhl nicht nur betreten, sondern ihn zähmen und zivilisieren? Doyle kam schon bald darauf, dass es dafür eigentlich schon einen Idealkandidaten gab: Sherlock Holmes! Also kündigte er dessen Rückkehr an - und war Profi genug, sein ursprünglich für diesen Roman mit dem "Strand"-Magazin vereinbartes Honorar zu verdoppeln ... Die "Strand"-Herausgeber waren klug beraten, auf diese Forderung einzugehen - sie mussten zum ersten Mal in der Geschichte sieben Auflagen ihres Magazins drucken, so lange Holmes und Watson den Hund der Baskervilles jagten.
Kritiker bemängelten schon damals die Fadenscheinigkeit des Plots. Allzu intensiv darf man wirklich nicht darüber nachdenken, wie realistisch (oder zuverlässig) es beispielsweise ist, bei einem verwickelten Erbbetrug auf die Unterstützung eines mit Phosphor angemalten Hundes zu setzen. Aber lässt man sich auf die Geschichte ein, erlebt man noch heute eine höllisch spannende, wunderbar nostalgische Zeitreise zurück in eine wahrlich archaische Epoche.
Sieben Jahre waren sie fort, doch sofort sie sie präsenter denn je: Sherlock Holmes und Dr. Watson beherrschen die Szene, sobald sie diese betreten; ersterer sogar, obwohl (oder weil) er sich auf einige wenige, aber gut getimte und klug inszenierte Auftritte beschränkt. Niemals wird so deutlich wie im "Hund der Baskervilles", dass Holmes und Watson ein Team sind. Obwohl der gute Doktor jegliche kriminalistische Genialität nachhaltig vermissen lässt, schlägt er sich, scheinbar auf sich allein gestellt, mehr als wacker. Aktiv und agil durchstreift er das Moor und lernt es langsam, aber sicher und stellvertretend für seine Leser kennen. Doyle war ein besserer Autor, als es ihm oft zugestanden wurden, weil er ja "nur" Unterhaltung schrieb. Freilich wusste er genau, dass der Spuk von Baskerville rasch zerstoben wäre, hätte er sogleich Sherlock Holmes darauf angesetzt. Watson war leichtsinnig oder naiv (im positiven Sinne) genug, das Mysterium zu wahren. Erst später stößt Holmes dazu und bringt die eingeleiteten Verwicklungen zur finalen Auflösung.
Dieser Sherlock Holmes zeigt sich im "Hund der Baskervilles" auf der Höhe seiner Fähigkeiten. Dabei erleben wir ihn von einer bisher nur behaupteten, aber ansonsten unbekannten Seite: Schon früher hatte Watson erwähnt, dass sein Freund durchaus weite Reisen unternahm, wenn es einen exotischen Fall zu klären galt. Nun verlässt Holmes sein geliebtes London tatsächlich - und siehe da: Er entwickelt glaubhaft echte Offroad- Qualitäten.
Auch die übrigen Figuren sind unsterblich geworden. Niemand, der (oder die) den "Hund der Baskervilles" gelesen hat, vergisst den unglücklichen Seldon, den düsteren Stapleton oder die gramgebeugten Barrymores - Gestalten wie aus dem klassischen Horrorroman, die ausgezeichnet ins Grimpenmoor passen und dessen fremdartige Bedrohlichkeit unterstreichen.
Deine Meinung zu »Der Hund der Baskervilles«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!