Die Abenteuer des Sherlock Holmes
- Erschienen: Januar 2000
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Herbst 1888 London im Nebel, selbst das Verbrechen rührt sich nicht. Gelangweilt tröstet sich der Beratende Detektiv Sherlock Holmes mit dem Inhalt seines Kokainfläschchens, als ihn endlich ein neuer Fall schlagartig zur Abstinenz bringt: Der jungen Mary Morstan wird schon seit sechs Jahren an jedem Geburtstag eine wertvolle Perle zugeschickt. Nun hat sich der bisher anonym gebliebene Wohltäter an sie gewandt und lockt mit Informationen über das Schicksal ihres vor Jahren verschollenen Vaters. Captain Morstan, der in Indien stationiert gewesen war, habe dort einen enormen Schatz gefunden, um den er und damit auch seine Tochter freilich geprellt worden seien. Nun sei der Tag der Gerechtigkeit gekommen.
Dem Treffen möchte Mary verständlicherweise nicht ohne Beistand beiwohnen. Holmes, den die verwickelte Vorgeschichte fasziniert, erklärt sofort seine Unterstützung. Dr. John Watson, sein Freund, Chronist und inoffizieller Assistent, steht ihm zur Seite, zumal er sich auf den ersten Blick in die neue Klientin verliebt hat. Die Spur führt das Trio zunächst zum exzentrischen Thaddeus Sholto, der sich als Sohn des Mannes zu erkennen gibt, der Captain Morstan einst nicht nur betrogen, sondern auch umgebracht hat. Des auf diese Weise ertrogenen Schatzes konnte sich der alte Sholto freilich nicht lange erfreuen: Außer Morstan waren noch andere eingeweiht gewesen - wie viele dies waren, ließ sich einem Zettel entnehmen, der sich bei der Leiche des von Verfolgungsängsten getriebenen und vor seiner Zeit verstorbenen Sholto fand: "Das Zeichen der Vier" stand dort geschrieben.
Ein Mann mit Holzbein und ein Urwelt-Zwerg
Seither hütet Thaddeus' vom väterlichen Geiz infizierte Bruder Bartholomew den Schatz. Geerbt hat er allerdings auch dessen unheimlichen Verfolger: einen Mann mit Holzbein und einen Urwelt-Zwerg, der mit vergifteten Blasrohrpfeilen schießt. Dieses mörderische Duo hat den unglücklichen Bartholomew schon gefunden, als Mary Morstan mit ihren Begleitern im Sholto-Haus auftaucht, um Gerechtigkeit und ihren Anteil zu fordern. Da die Polizei wie immer hilflos im Kreise tappt, setzt Holmes die Suche fort. Es entspinnt sich eine Jagd kreuz und quer durch die verwinkelten Gassen des viktorianischen London, welche die bekanntlich beachtlichen Geisteskräfte des großen Detektivs aufs Äußerste beansprucht und in einer tollkühnen Verfolgung per Dampfboot über die nächtliche Themse gipfelt ...
Kaum drei Jahre liegen zwischen "Das Zeichen der Vier" und Eine Studie in Scharlachrot, dem ersten Roman um Sherlock Holmes und Dr. Watson. In dieser Zeit hat Verfasser Arthur Conan Doyle ganz offensichtlich eine Menge in Sachen Plotentwicklung und Handlungsführung gelernt. Während "Eine Studie ..." praktisch in zwei separate, nur notdürftig miteinander verbundene Segmente zerfiel, erzählt "Das Zeichen der Vier" tatsächlich eine klassische Geschichte mit Anfang, Hauptteil und Schluss.
Doyle geht auf Nummer Sicher und stellt für jene Leser, die "Eine Studie ..." bereits vergessen haben, noch einmal Sherlock Holmes und die Kunst der kriminalistischen Deduktion vor. Das gelingt ihm erneut meisterlich, zumal es mit der erstaunlichen, von fanatischen Sherlockisten nicht gern in den Vordergrund gestellten Eröffnung einhergeht, dass Mr. Holmes ein Fixer ist. Um 1890 war dies verpönt, aber nicht strafbar, obwohl Dr. Watsons mahnende Worte verraten, dass man um die schädlichen Nebenwirkungen der Droge schon wusste.
Aber dann betritt Mary Morstan die Szene, und das Spiel - so Holmes - beginnt. Auch dieses Mal bringt tief in der Vergangenheit wurzelndes Unrecht die Dinge ins Rollen, aber die Handlung verharrt ganz im Hier und Jetzt - ein doppeltes Vergnügen aus heutiger Sicht, denn Doyle glänzt mit stimmungsvollen Impressionen aus der viktorianischen Themse-Metropole, die für ihn alltägliche Lebensstätte war. Dieses Zeitzeugenschaft verleiht den "echten" Holmes-Romanen jene überzeugende Leichtigkeit, die den unzähligen Pastiches der Zukunft in der Regel abgeht.
Noch etwas hat sich geändert: "Im Zeichen der Vier" nimmt den Leser mit auf eine ebenso ausgedehnte wie turbulente, gut getimte Verfolgungsjagd durch den Mittelteil. Hier gibt es keine Verzögerungen, sondern klug gesetzte Verschnaufpausen, in denen uns Doyle wie nebenbei wichtige Informationen liefert, bevor es mit frischer Kraft weitergeht. Das Finale auf der Themse ist sogar Action pur, wie sie Hollywood nicht dramatischer in Szene setzen könnten.
In letzter Minute Rückfall in alte Sünden
In letzter Minute fällt Doyle dann doch in alte Sünden zurück. Er lässt den gefassten Schurken langatmig die Geschichte des Agra-Schatzes erzählen, statt diese ebenfalls nach und nach in die Handlung einfließen zu lassen, und nimmt dieser dadurch die Dynamik, mit der sie bisher vorangetrieben wurde. Immerhin macht es Doyle kurz und beweist zu guter Letzt einen gut entwickelten Sinn für seifenoperliche Happy-Ends, als er Dr. Watson seine Verlobung und anstehenden Auszug aus der Baker Street Nr. 221b verkünden lässt: ein gelungener Cliffhanger, der neugierig werden lässt, was nun aus unseren Detektiven wird.
Sowohl Sherlock Holmes als auch Dr. Watson haben bereits zu jener Form gefunden, die sie unsterblich werden ließ. Das Zusammenspiel ist harmonisch und lässt wiederum erkennen, dass Watson weit mehr als der an Lesers Statt staunende Depp und Holmes' Wasserträger ist; wieso hätte ihn der Detektiv wohl sonst postwendend für einen neuen Fall zwangsrekrutiert, als der gute Doktor sich in der Baker Street blicken ließ? Trotz aller gebotenen viktorianischen Gefühlskühle lässt Doyle zudem immer wieder durchscheinen, dass Sherlock Holmes beileibe keine Denkmaschine, sondern ein komplexer Charakter mit zwar sorgsam verborgenen, aber sicherlich präsenten Emotionen ist; diesen Aspekt nahm er später hin und wieder übrigens wieder zurück, wenn es einer Geschichte dienlich war. (Doyle nahm es mit der Kohärenz oder der Chronologie seiner Holmes-Saga übrigens nicht annähernd so genau wie ihre fanatischen Anhänger.)
Doyle nimmt die Chronologie nicht ganz so ernst
Recht lebensecht wirkt auch der holzbeinige Übertäter Small (der sicherlich Züge des legendären Long John Silver aus Robert Louis Stevensons "Treasure Island"/"Die Schatzinsel" von 1883 trägt), der konsequent sein Schurkenspiel treibt und sich ohne Reue als guter Verlierer zeigt, dem sogar seinen sittenstrengen Häschern widerwillige Anerkennung zollen. Mit der Figur des Insulaners Tonga entlarvt sich Doyle unfreiwillig als typischer Repräsentant des britischen Empires, dessen göttliche Mission es ist, sich die Welt untertan zu machen, die ausserhalb des Mutterlandes nur von Wilden, Heiden, Hunnen und "schwarzen Teufeln" bevölkert wird, welche ohne strenge Führung ohnehin nichts Rechtes mit ihr anzufangen wissen.
Miss Morstan neigt zwar in kritischen Situation zu Ohnmachtsanfällen (wie es sich einer Lady ziemt), aber sie ist trotzdem nicht das typische Doylesche Weibchen, das Hände ringend primär vor irgendwelchem Ungemach gerettet werden muss, sondern verfügt über Willensstärke und Köpfchen, wie sogar Sherlock Holmes, der unverbesserliche Chauvinist, widerwillig eingesteht. Athelny Jones gibt den aufgeblasenen, unbelehrbaren Polizisten, in dessen Anwesenheit das Licht des Meisters Holmes um so heller strahlt; Doyle spricht hier auch der zeitgenössischen Öffentlichkeit aus der Seele, die nicht vergessen hatte, dass die ohnehin kaum für ihre kriminalistischen Leistungen bekannte Polizei erst vor etwa einem Jahr, im Spätherbst 1888, den Serienmörder Jack the Ripper nicht fassen konnte.
Doyles perfekte Sammlung
Diese erste Sammlung klassischer Sherlock Holmes-Kurzgeschichten gilt der Literaturkritik und vielen Lesern als die mit Abstand beste. Das kommt nicht von ungefähr: Arthur Conan Doyle hatte seinen Helden, den er mit Studie in Scharlachrot (1888) und Das Zeichen der Vier (1890) vorzüglich eingeführt hatte, erstens voll im Griff und zweitens noch nicht über, sondern seinen Spaß daran, diese Figur mit ihren bemerkenswerten Fähigkeiten und Marotten auszuloten. Dazu kam - für Doyle stets wichtig - die Verlockung einer guten Entlohnung, die das "Strand Magazine" ihm dafür bot, das allmählich sehr beliebt werdende Duo Holmes & Watson in einer Serie von zwölf Stories auftreten zu lassen, von denen in jedem Monat eine erscheinen würde.
Also gab Doyle sein Bestes, und da er als Unterhaltungs-Schriftsteller ein absoluter Profi war, konnte sich das Ergebnis sehen lassen. Der wahre Sherlockist kennt natürlich sämtliche 56 Kurzgeschichten (und vier Romane) in- und auswendig, aber selbst der Gelegenheitsleser erkennt, dass die "Abenteuer des Sherlock Holmes" sämtlich Klassiker sind. So ist es vermutlich einfacher, die Sammlungen älterer Detektivgeschichten aufzulisten, in denen "Das gesprenkelte Band" oder "Der blaue Karfunkel" n i c h t auftauchen. Dies ist der wahre, der unverfälschte (und noch Kokain fixende) Sherlock Holmes, noch nicht verwässert durch die späten Stories, die von Doyle in weitem zeitlichen Abstand zum nostalgisch vernebelten London Queen Victorias und vor allem um des Geldes geschrieben wurden.
Liest man die 56 Holmes-Geschichten nicht in der (ihnen nachträglich aufgepfropften) chronologischen Reihenfolge, sondern so, wie Doyle sie verfasste, lassen sich einige interessante Entdeckungen machen. So erstaunt sehr der Anteil der Fälle, die man gar nicht als "kriminalistisch" definieren könnte. "Ein Skandal in Böhmen", "Eine Frage der Identität", "Der Mann mit der entstellten Lippe", "Der blaue Karfunkel" oder "Der adlige Junggeselle" beschäftigen sich mit Verbrechen höchstens am Rande. Sherlock Holmes erscheint hier weniger als Detektiv denn als letzte Instanz in allgemein rätselhaften Angelegenheiten. Meist wird im Finale nicht einmal ein Schurke gestellt, und falls doch, lässt ihn Holmes womöglich wieder laufen bzw. liefert ihn einer höheren Gerechtigkeit aus. Ihm geht es eben nicht primär um den Sieg der (offiziellen) Gerechtigkeit oder gar Geld und Ruhm (obwohl er ersteres nicht ausschlägt und letzteren durchaus schätzt), sondern um sein ureigenes Steckenpferd, die "Deduktion". Damit meint er die durch ihn zur Kunst erhobene Fähigkeit, viele Spuren und Indizien zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen, das eine Geschichte erzählt, die ansonsten verborgen bliebe.
Unter diesen Umständen ist es für Holmes, aber auch für Watson und stellvertretend durch ihn für die Leserschaft nebensächlich, ob der Detektiv einem Monarchen aus der Patsche hilft oder "nur" einem verarmten, vom Leben gebeutelten Jedermann wieder zu seiner Weihnachtsgans verhilft. Gerade die letzte Episode brachte ihm unverhofft genau den Kitzel, nach dem Holmes süchtig ist: Überraschungen sind der Stoff, aus dem seine Träume sind. Dr. Watsons Lesern geht es ebenso, und Arthur Conan Doyle gibt ihnen, was sie sich wünschen. Aus heutiger Sicht mögen einige Wendungen nicht mehr verblüffen, aber die Welt hat sich halt weitergedreht und trägt nun eine dank des Fernsehens deutlich abgebrühtere Generation.
Wenn man Doyle indes unbedingt einen Vorwurf manchen möchte, dann lässt sich dieser ausgerechnet an den kriminalistischen Plots festmachen, die doch eigentlich das A und O einer Detektivgeschichte sein müssten. Bei näherer Betrachtung stellt sich rasch heraus, dass wohl keine der komplizierten Intrigen und Todesfallen funktionieren dürften, die zu klären sich Holmes solche Mühe gibt. Nur ein Beispiel: Wie realistisch ist es wohl, eine bekanntlich recht hohlköpfige, vor allem aber stocktaube Schlange mit Flötentönen und Milchgenuss zur unfehlbaren Mordmaschine zu dressieren ("Das gesprenkelte Band")?
Der Punkt ist aber, dass Pedanten und Ketzer nichts in der Welt des Sherlock Holmes verloren haben. Arthur Conan Doyle selbst vertrat in diesem Zusammenhang eine sehr gesunde Meinung: "Aber was Details betrifft, bin ich nie ängstlich gewesen, und manchmal muss man einfach gebieterisch sein." (aus "Memories und Adventures", 1924, zitiert nach der "editorischen Notiz" in Die Memoiren des Sherlock Holmes, Haffmans- Verlag 1985, S. 297) So gewinnt man sicher keinen Literatur-Nobelpreis, aber viele treue Leser, die ein flottes Garn über angeblichen Realismus stellen. Für allzu intensive Recherchen blieb dem überaus produktiven Doyle ohnehin nur begrenzte Zeit, denn er musste regelmäßig liefern! Unter diesen Voraussetzungen leistete er fabelhafte Arbeit, und so lesen sich alle in diesem Band versammelten Geschichten mehr als ein Jahrhundert nach ihrer Entstehung mit demselben Genuss, den die Käufer des "Strand" einst verspürt haben müssen.
Bei seinem dritten Auftritt hat sich der Welt erster "Beratender Detektiv" endgültig in seinem selbst gewählten Metier etabliert. Holmes' überragende Fähigkeiten haben sich "auf drei Kontinenten" herumgesprochen, wie Watson rühmt - bemerkenswert eigentlich für einen Kriminalisten, der sich besser ein wenig abseits der Öffentlichkeit halten sollte. Aber da ist eben Holmes' Eitelkeit, die Watson keineswegs verschweigt. In diesem Zusammenhang muss auch seine Selbstherrlichkeit gesehen werden: Holmes behält sich durchaus vor, aus eigenem Ermessen zu richten. Einen Schurken lässt er laufen, wenn er es für richtig hält, statt ihn der Polizei zu übergeben, und einmal (in "Das gesprenkelte Band") nimmt er den Tod des Täters sogar wissentlich in Kauf: "Auf diese Weise bin ich zweifellos indirekt für Dr. Grimesby Roylotts Tod verantwortlich geworden, aber in kann nicht behaupten, dass dies mein Gewissen sehr bedrücken wird." (S. 234)
Aufsehen vermeiden - die Tugend des viktorianischen Herrn, der sich aber auch die wahre Lady verpflichtet fühlt. Immer wieder erleben wir, dass Holmes zu Rate gezogen wird, wenn es gilt, die schon damals unerwünschte Aufmerksamkeit der Presse zu vermeiden. Das akzeptiert er, weil er in beruhigend hoher Position in der zeitgenössischen Gesellschaft verankert ist. Aber Holmes steht nicht über den Konventionen, und er ist nicht darüber erhaben, erbost zu sein, wenn ihn ein adliger Laffe oder sogar ein eingebildeter König kaum verhohlen als besseren Dienstboten behandeln. In solchen Momenten mag ihm schmerzlich zu Bewusstsein kommen, dass er eben nicht dem Idealbild des müßiggängerischen, feingeistigen Gentleman entspricht, den primär der Sportsgeist zu seinem Tun treibt.
Als Ermittler ist er längst nicht so unfehlbar wie ihm dies die Literaturkritik gern vorhält. In "Die fünf Orangenkerne" oder "Der Daumen des Ingenieurs" bleibt Holmes sogar ausgesprochen erfolglos. Das nimmt er allerdings mit Humor und der Gelassenheit des Profis: Es werden wieder andere Fälle kommen - und Holmes ist lernfähig: "Er pflegte sich einstmals über weibliche Schauheit lustig zu machen, aber seither habe ich derlei nicht mehr bei ihm gehört." ("Ein Skandal in Böhmen", S. 36).
Watson bleibt es einmal mehr überlassen, hinter den trügerischen Panzer der "Denkmaschine" zu schauen. Erneut stellt sich heraus, dass der bodenständige Doktor Holmes ein echter, nach seiner Heirat oft schmerzlich vermisster Freund ist. Dem Detektiv ist es menschlich nicht gegeben, dies in Worte zu fassen, aber seine Taten sprechen Bände: Wieso sonst ist er stets in einen Fall verwickelt, der die Unterstützung des Doktors unbedingt erforderlich macht, sobald diesen der Zufall über Holmes' Schwelle treibt? Watson scheint das durchaus zu wissen, und er sorgt sich um den Freund. In "Die Blutbuchen" versucht er ihn sogar mit einer Klientin zu verkuppeln und ist betrübt, als Holmes darauf nicht anspringen mag.
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