Kritik der mörderischen Vernunft
- Ullstein
- Erschienen: Januar 2009
- 30
- Berlin: Ullstein, 2009, Seiten: 544, Originalsprache
Hirnforschung und Wissenschaftskritik
Ein Killer, der sich "Kant" nennt, hat es auf Deutschlands führende Hirnforscher abgesehen. Als Kronzeugen für seine mörderischen Taten hat er sich den Wirtschafts-Journalisten Richard Troller auserkoren, der neben seiner Tätigkeit für das Magazin "Fazit" ein wenig erfolgreiches Buch mit dem Titel "Der Terror der Wissenschaft" veröffentlicht hat. Kant erkennt in ihm den scheinbar Gleichgesinnten und weiht ihn mit kryptischen Andeutungen in seine Pläne ein. Als Troller eine Mail erhält, in der Kant ankündigt "mit unserer praktischen Kritik" zu beginnen, ist er sich nicht sicher, was er davon halten soll. Doch als am nächsten Tag der anerkannte Hirnforscher Prof. Dr. Herbert Ritter ermordet und auf erniedrigende Art zur Schau gestellt wird, weiß Troller, dass Kant es ernst meint. Und Kant hat mit seiner mörderischen "Kritik" gerade erst angefangen.
Also ermittelt Troller in eigener Sache. Zuerst allein, später gemeinsam mit Lebensgefährtin und Kollegin Jane Anderson. Die weilt zu Beginn der Mordserie in London, um über den Fall des "Erlösers" Frederick McKinnock zu berichten, einen Altenpfleger, der der vielfachen aktiven Sterbehilfe angeklagt ist. Glücklicherweise fällt McKinnock nach einem missglückten Selbstmordversuch ins Koma, sodass Anderson Kapazitäten frei hat, um sich Trollers Jagd anzuschließen und gleichzeitig ein Auge auf den attraktiven Sun-Reporter Frank Teschemacher zu werfen. Kabale und Liebe in reinster Form. Denn Troller seinerseits liebäugelt mit der attraktiven Kommissarin Rita Graf. Im Gegensatz zu Jane bleiben seine Bemühungen platonisch. Wobei die vielfältigen Liebeshändel unsere findigen Journalisten nicht davon abhalten, auf die Spur der mysteriösen Firma Braintech zu stoßen. Die fungiert als Sponsor eines elitären Clubs, der sich nicht nur die Erforschung des menschlichen Gehirns zur Aufgabe gemacht hat, sondern nach manipulativen Möglichkeiten sucht, um per Gehirnkontrolle eine bessere Menschheit bauen zu können. Sollte zwischen der Verneinung des freien Willens und der Unterjochung des denkenden, aber unvollkommenen Menschen nur noch ein Killer stehen, der den altehrwürdigen Immanuel Kant nach seinem Gusto auslegt?
Hirnforschung und Wissenschaftskritik, ein seltenes Sujet im weiten Feld der Kriminalliteratur. Jens Johler wirft einen genauen Blick darauf, wirft Schlaglichter auf die Schattenseiten einer Ethik, die keinen moralischen Impetus mehr kennt. Nur das Mögliche zählt. Wenn es der guten Sache dient. Einer guten Sache, deren Inhalte von Geheimdiensten und multinationalen Konzernen diktiert werden. Erfüllungsgehilfe ist der "Club" genannte Verbund führender Wissenschaftler, williger Philosophen und Geldgeber, die so uneigennützigen Bereichen wie Softwareentwicklung und repressiven Regierungsabteilungen angehören. Im Schatten des 11. September 2001 scheint ein derartiges Schreckensszenario kein Ding der Unmöglichkeit mehr. Das düstere Bild einer entfesselten Wissenschaft, die sich alleine am Machbaren orientiert, für die die Manipulation des Gehirns nur eine Möglichkeit von vielen ist; die in vorauseilendem Gehorsam bereits intensiv testet, bevor die Frage nach Sinn, Verantwortung und Folgen gestellt werden, ist Jens Johler einprägsam und nachhaltig, trotz eines Hangs zum ausschweifenden Dozieren, gelungen.
Leider reicht ihm das nicht. Johler will mehr. Er möchte herkömmlicher Spannungsdramaturgie genügen, deshalb tritt der wenig glaubwürdige und meist im Hintergrund agierende Serienkiller Kant auf den Plan; er will Human Interest, und so darf Troller immer mal wieder mit seiner Tochter Sarah über Problemchen parlieren, ohne dass es auch nur ansatzweise in die Tiefe geht. Vor allem darf sich Herzchen Jane schier zerreißen zwischen ihrem bärbeißigen Troller und dem Sonnyboy Teschemacher, dessen Vorhandensein mit der literarischen Brechstange erzwungen wird. Die Geschichte des "Erlösers" McKinnock dient als bloße Klammer, um Jane und ihren kickboxenden Tarzanersatz Frank zusammenzuführen. Wie Janes Entscheidung am Ende aussehen wird, ist ziemlich schnell klar; immerhin gelingt es Johler dies lakonisch und mit grimmigen Witz aufzulösen.
Wobei nicht nur hier auffällt, dass ihm Troller als Figur wesentlich anschaulicher gelungen ist, als sein weibliches Pendant Jane Anderson. Selbst, wenn Johler den Standards mehr schlecht als recht gehorcht, behält der alte Grantler Troller seine Bodenhaftung. Wie er mit seiner Verhaftung und dem anschließenden Verhör als möglicher Tatverdächtiger umgeht, besitzt eigenwilligen Humor und Charme. Da ist sogar der naheliegende, aber recht platte Spiegelzellen-Kalauer in der Untersuchungshaft verzeihlich.
Man wird das Gefühl nicht los, dass Johler der Kraft seiner Ideen nicht traut und den Roman deshalb unnötig aufbläht. Da müssen die ach so beliebten Verschwörungstheorien her, die mit der Involvierung der CIA, russischen Schlagetots und Geheimgesellschaften beginnen, aber bei weitem nicht enden. Fast jeder vergebene Name ist doppeldeutig und von Fiktion oder Realität geprägt; seien es Laurenz Block, Pit Kern oder Piet von Dijk. Damit auch der unbedarfteste Leser erfährt, dass Letzterer sich von Peter Sloterdijk ableitet, wird im Nachwort extra darauf hingewiesen. Dieser Hang zur Besserwisserei und kalkulierter Raffinesse nimmt der Kritik der mörderischen Vernunft einiges von ihrer möglichen Wirkung.
Größter Schwachpunkt ist jedoch die Figur des Kant. Während der Ermittlungen kaum präsent, in der Auflösung wenig überzeugend (Freunde flinker Zauberei zünden jetzt eine Kerze für Hut und Kaninchen an), hat er seinen Namensgeber entweder nicht genau gelesen, oder Kants Schriften sind ihm ziemlich egal. Den kategorischen Imperativ lässt er aufgrund seiner mörderischen Taten jedenfalls geflissentlich unter den Tisch fallen. Dass es die kleine Tochter des eigentlichen Opfers zerfetzt, wird als Kollateralschaden abgehakt. Am Ende steht die schlichte These, dass auch der Gerechte manchmal Ungerechtigkeiten begehen muss, um der Wahrheit, Moral oder was auch immer zum Sieg zu verhelfen. Keine Spur von: "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde." Das ist dann doch etwas zu simpel für eine Geschichte, die sich vorher ausufernd darum bemüht hat, einen philosophischen Unterbau zu schaffen, der eben nicht nach der einfachsten Lösung strebt.
Johler hat sich auf glattes Parkett begeben, und er kommt nicht nur ins Rutschen, teilweise schlittert er Besorgnis erregend darüber, verliert mitunter den Überblick und gerät mächtig in Schieflage. Dass er nicht endgültig fällt, verdankt er seinem Geschick, einem äußerst spannenden Thema eigene und nachdenkenswerte Einsichten abzugewinnen. So bleibt die Kritik der mörderischen Vernunft trotz vorhandener Schwächen eine lesenwerte Kopfreise.
Doch was wäre wohl drin gewesen, wenn sich der freie Wille nicht populistisch ausgerichtet, sondern auf das Wesentliche konzentriert hätte ?
Jens Johler, Ullstein
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