Der rote Engel
- Ullstein
- Erschienen: Januar 2009
- 6
- Paris: La Vie du Rail, 2003, Titel: 'Train d´enfer pour ange rouge', Seiten: 428, Originalsprache
- Berlin: Ullstein, 2009, Seiten: 393, Übersetzt: Brigitte Lindecke & Barbara Ostrop
Brutalität ist Trumpf und einige Schnitzer verärgern zusätzlich
In Fourcheret, einer kleinen Nachbarstadt im Nordosten von Paris, wird die grausam entstellte Leiche der 36-jährigen Martine Prieur gefunden. Da die örtliche Polizei kaum Erfahrung mit derartigen Kapitalverbrechen hat, übernimmt die DCPJ, die Direction Centrale de la Police Judicaire, die Oberdirektion der französischen Kriminalpolizei, die Ermittlungen. Polizeikommissar Franck Sharko und sein Team arbeiten fieberhaft, denn ein derart brutales Verbrechen kam selbst ihnen bislang nicht unter. Das Opfer wurde an einer Konstruktion, die an ein komplexes Flaschenzugsystem erinnert, aufgehangen. Zahlreiche Ketten und Haken wurden ihr dabei direkt unter die Haut gejagt, um sie auf diese Weise festzubinden. Der Mörder scheint ein perfides Spiel insbesondere mit Sharko aufziehen zu wollen, denn dieser erhält eine Mail, die an die Mutter des Opfers gerichtet ist. Die Mail enthält auch ein unscheinbares Bild eines Bauern, dass Sharkos Freund, der Computerexperte Thomas Serpetti für verdächtig hält. Er glaubt, dass sich hinter diesem harmlosen Bild eine versteckte Nachricht befindet. Während Serpetti versucht, dem möglichen Geheimnis des Bildes auf die Spur zu kommen ergibt die Obduktion der Leicht, dass deren Mageninhalt mit einer großen Wassermenge versehen war, die einen extrem hohen Anteil an Granit enthält.
Sharko nimmt dies als Hinweis und begibt sich an die Cote d’Armor, eine Gegend, die für ihre Steinbrüche mit hohem Granitvorkommen bekannt ist. Hier erhofft er sich neue Erkenntnisse und stößt auf den vermeintlichen Selbstmord von Rosance Gad, die eine Vorliebe für SM- und Bondage-Sex hatte. Sharko beginnt mit Nachforschungen über die SM-Szene und stößt dabei auf eine Gruppe, die sich BDSM4Y nennt. Eine geheime Verbindung, die die Grenzen zum Tod mit extremen Sexspielen auslotet. In der Zwischenzeit ist das Geheimnis des Bildes der Mail gelöst, welches einen Hinweis auf ein weiteres Opfer enthält. Mehr und mehr findet Sharko über gewaltsame Sexpraktiken im Internet heraus bis hin zu real erscheinenden Vergewaltigungen und Todesspielen. Doch erst nach dem seien Nachbarin Doudou Camélia, die über seherische Fähigkeiten verfügt, ebenfalls brutal ermordet wird, erkennt Sharko, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt, um den Mörder zu finden. Denn dieser hat offensichtlich Sharkos Frau Suzanne in seiner Gewalt, die vor knapp sechs Monaten spurlos verschwand…
Der rote Engel zeichnet sich in erster Linie durch ein hohes Maß an Brutalität aus, was sich auch, aber nicht nur, auf die dargestellten Sexpraktiken bezieht. Die Spannbreite reicht vom extremen SM-Sex bis hin zum Bondage, der japanischen Fesselkunst. Neben diesen nicht immer leicht zu lesenden Passagen erfahren wir anfangs recht viel über die Ermittlungsarbeit der Polizei sowie die Arbeit eines Profilers. Lässt man sich auf den Inhalt ein, so ist der Plot mitunter lesenswert, wobei die Handlungsweise des Protagonisten nicht immer nachvollziehbar erscheint. Nur weil der Wasseranteil im Körper eines Opfers einen hohen Granitanteil aufweist, fährt Sharko direkt in die Bretagne und besucht dort sämtliche Steinbrüche in der Hoffnung, weitere Spuren zu finden. Na ja.
Wesentlich störender sind aber offensichtliche inhaltliche Fehler, die kaum zu entschuldigen sind. Allerdings kann hier nicht beurteilt werden, ob der Autor oder die Übersetzung derart geschludert haben. Zwei Beispiele:
Letztes Jahr am 16. Juli ist Rosance Gad … am Boden zerschmettert. [Seite 80]
Mehr als … zweieinhalb Monate lagen zwischen dem Tod von Gad und dem Mord an Prieur. [Seite 85]
Sicher, wenn der Tod von Gad im letzten (!) Jahr im Juli erfolgte, liegt dieser mindestens sechs Monate zurück, also "mehr als zweieinhalb Monate". Tatsächlich fanden beide Ereignisse im gleichen Jahr statt (im Abstand von – richtig – zweieinhalb Monaten).
…alle fünfzehn Tage, von April angefangen, mit einem Spitzenbetrag von zweihunderttausend Euro Anfang September. Ein kurzes Überschlagen brachte mich auf eine Summe von ungefähr fünf Millionen Euro, in nicht einmal sechs Monaten. [Seite 385]
Ihr Rezensent überschlägt auch mal kurz. Alle fünfzehn Tage heißt zwei Mal im Monat. Zwei Mal den Höchstbetrag (!) von zweihunderttausend ergibt maximal vierhunderttausend im Monat, macht mit sechs multipliziert in einem halben Jahr… richtig, ungefähr fünf Millionen. Oder sagen wir doch besser knapp die Hälfte davon. Autsch! Wie heißt es in der Werbung: "PISA, die Freiheit nehm’ ich mir." (oder so ähnlich)
Bei solch groben Schnitzern vergeht einem der Lesespaß, zumal diese einer Übersetzerin (im vorliegenden Fall waren gleich zwei am Werk) und einem Lektorat auffallen sollten, um nicht zu sagen auffallen müssen. Wen derartige Pannen nicht sonderlich stören und wer schon immer mal einen Einblick in die dunkle Welt des schmerzhaften SM-Sex und artverwandter Praktiken erhalten wollte, findet hier vielleicht die "richtige" Lektüre. Allerdings sollte man sich auf eine starke blumig-bildgewaltige Ausdrucksweise des Autors gefasst machen. Am Ende wartet nach etlichen Leichen und einem Protagonisten, für den die Regeln üblicher Polizeiarbeit nicht zu gelten scheinen, eine vorhersehbare Auflösung.
Franck Thilliez, Ullstein
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