Paragraf 301
- Grafit
- Erschienen: Januar 2008
- 6
- Dortmund: Grafit, 2008, Seiten: 448, Originalsprache
- Dortmund: Grafit, 2010, Seiten: 475, Originalsprache
Bericht einer Ohnmacht
Kemal Kaya, Emin Gül, Heyder Cengi, Veli Adaman - vier Türken in Deutschland. Während sie jedoch aus der Sicht eines Deutschen das gleiche Schicksal haben mögen, sieht die Situation aus Sicht der Betroffenen ganz unterschiedlich aus. Während die ersten beiden nämlich stolze Türken und sunnitische Moslems sind, sind letztere Aleviten aus dem Dersim bzw. Tunceli, wie es die Türken nennen. Und die sehr liberalen Aleviten führen seit Jahrzehnten kein freies Leben mehr in der Türkei. Ihre Kultur und ihre Sprache werden unterdrückt. In den 1930er Jahren wurden sie von den Türken verfolgt und deportiert, bis in die Gegenwart reichen gewaltsame Übergriffe gegen die Aleviten. Paragraf 301 - der Paragraf über das Türkentum. Paragraf 301 - der neue Roman von Wilfried Eggers.
Rechtsanwalt Schlüter findet sich unversehens zwischen den Fronten: Kemal Kaya bittet Schlüter, seinen Neffen Gül in dessen Asylantragsverfahren zu vertreten. Bei Abschiebung in die Türkei droht ihm eine 20-jährige Haftstrafe, da ihm Brandstiftung an einem Hotel und gleichzeitig Tötung von 36 Aleviten in der anatolischen Provinzstadt Sivas zulasten gelegt wird. Nahezu gleichzeitig erhält er von Veli Adaman den Auftrag, Heyder Cengi zu verteidigen. Cengi befindet sich genauso illegal in Deutschland wie Gül, kann aber keine Verfolgung in der Türkei nachweisen, da es offiziell keine Verfolgung gibt. Zu allem Überfluss wird Cengi verdächtigt, auf der Flucht vor einem Baustellenkontrolleur in ein Gerangel verwickelt worden zu sein, wobei der Kontrolleur zu Tode stürzte.
Pikant wird das ganze, weil Veli Adaman ein Jahr zuvor in jenem Hotel in Sivas zugegen war und nur knapp den Flammen entkam. Er erkennt in Gül auch tatsächlich den Brandstifter wieder, womit dessen Schuld bewiesen werden könnte. Doch kurz später ist Adaman tot. Hatte Gül ihn auch erkannt? Und während Cengi Schlüter das Mandat wieder entzieht, nachdem er erfährt, dass dieser auch Gül vertritt, will der Rechtsanwalt in der Türkei nach den Spuren suchen, die ihm den Fall in seiner kompletten Dimension offenbaren.
Autor Eggers hat die Handlung in die Jahre 1994/95 verlegt. Somit schafft er die zeitliche Nähe zum letzten schweren Übergriff auf die Aleviten, der es auch in die Nachrichten hierzulande brachte. Ein Protestmarsch tausender aufgebrachter Türken gegen eine Tagung von Aleviten, bei denen auch der Übersetzer von Rushdies Satanische Verse, Aziz Nesin, zugegen war. Am Ende dieses Tages stand das Tagungshotel in Flammen. Aber schafft er mit diesem zeitlichen Sprung auch die Nähe zum Leser?
Hand aufs Herz: Wer weiß von Sunniten, Aleviten, Kurden? Wer kennt das Dersim bzw. Tunceli? Wer weiß, warum die PKK in den Bergen Kurdistans sich dem türkischen Militär widersetzt? Und wer hat schon mal vom Völkermord an den Aleviten und deren Deportation in den 30er Jahren gehört? Ja, es ist Wilfried Eggers gelungen, seine Leser für diese Themen zu interessieren. Immer wieder muss man ungläubig den Kopf schütteln, dass auch heute noch solch offenbares Unrecht passieren kann und von einer ohnmächtigen Weltöffentlichkeit nicht bemerkt wird. Glückwunsch dazu, uns die Augen geöffnet zu haben! Doch was dem Autor nicht gelungen ist, ist aus diesem Stoff einen halbwegs ansprechenden und fesselnden Krimi zu stricken.
Auf 475 Seiten hat der Autor, selber Rechtsanwalt und Notar von Beruf, seine Erzählung ausgedehnt und verliert sich dabei schnell in Nebenschauplätze. Mit einer Überdosis Herzblut und Verve erzählt er diesen Roman, was aus beinahe jedem einzelnen Kapitel heraustrieft. Doch bei aller Leidenschaft scheint er das rechte Maß allzu leichtfertig übersehen zu haben. Anstatt sich auf den Konflikt zwischen Türken und Aleviten zu konzentrieren bringt er auch noch die PKK mit ein. Sein Exkurs in das deutsche Asylrecht ist als rundum gelungen zu bezeichnen, aber warum dann auch noch korrupte Verwaltungsangestellte karikieren, einen Ex-Knacki ins Gefühlschaos stürzen und wieder einmal eine islamische Zwangsverheiratung anprangern?
Der Roman bedient sich einer Reihe von Versatzstücken, die ihm nicht gut zu Gesicht stehen. Hinzu kommt ein behäbig-grüblerischer Rechtsanwalt Schlüter in der Hauptrolle, der über die gesamte Länge des Romans erstaunlich blass bleibt. Doch die Ohnmacht, die man angesichts der Gräueltaten gegenüber der Aleviten verspürt, überträgt sich leider auch auf die Story. Aus einem brisanten Thema wird so zwar nur ein sehr durchschnittlicher Krimi, der aber immerhin Interesse für die dunkle Seite der Geschichte der Türkei zu wecken vermag.
Wilfried Eggers, Grafit
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