Abriss Leipzig

  • Festa
  • Erschienen: Januar 2005
  • 1
  • Leipzig: Festa, 2005, Seiten: 281, Originalsprache
  • Berlin: Rotbuch, 2008, Seiten: 287, Originalsprache
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Bernd Neumann
79°1001

Krimi-Couch Rezension vonJul 2008

Schulbuchempfehlung für die Alt-Bundesländer

Henner Kotte lebt seit 1984 in Leipzig. Kotte ist gebürtiger und bekennender Ossi und legt uns mit Abriss Leipzig ein Stück Wende-Zeitgeschichte vor. Der Widererkennungseffekt ist hoch für Bewohner der neuen Bundesländer. Wer wissen will, warum die Wiedervereinigung sich selbst nach mittlerweile knapp zwanzig vergangenen Jahren noch schwer tut, warum der Osten anders tickt, sollte Kotte lesen - besonders als Wessi.

Kotte redet nicht wie ein Blinder von den Farben Schwarz, Rot und Gold. In seinem bisherigen Leben hat er Höhen (Dozent für Deutsch als Fremdsprache, weil durch Germanistikstudium u.a. in Moskau sprachlich mehrgleisig) und Tiefen (im Fachjargon der BAfA optimistisch als !arbeitssuchend" tituliert) durch. Diese Lebenserfahrungen scheinen von Vorteil, wenn man einen Krimi schreibt. Noch dazu im Up-and-Down des bundesdeutschen Ostens.

Strichermorde inmitten der Leipziger Abriss-Platte

 

Licht verschob die Szenerie ins Unwirkliche. Scheinwerfer. Blaulicht. Fotoblitze. Schatten erhoben das Kopfsteinpflaster zum Relief."

 

Die ersten (Wort-)Sätze aus Henner Kottes Abriss Leipzig knacken kräftig los wie ein Sado-Maso-Peitschenknall. Sie lassen sprachliche Eleganz vermissen, aber der neugierige Leser sollte sich dennoch unbedingt darauf einlassen:

 

Lars Kohlund traf ohne gute Laune am Ort des Geschehens ein. Es war April, Freitag, Nacht. (S. 9)

 

Das gleicht nicht gerade einer christlichen Dreifaltigkeit, um sich als Hauptkommissar mit Energie in die Ermittlung eines Mordfalles zu stürzen. Noch dazu, wenn es sich bei dem erstochenen Opfer um einen Minderjährigen handelt:

 

"Womit hat man es getan?" "Messer. Vermutlich. Die Wundränder sind glatt. Die Klinge nicht sehr breit. Ein Zentimeter. Eins Komma fünf. Kann man schwer sagen. Nicht breiter als zwei." (S. 11)

 

Das sind Kalaschnikow-Garben, mit denen der Leser bombardiert wird. Die Atmosphäre ist alles andere als entspannt, wirkt gehetzt, psychisch belastend.

Ins zwielichtige Leipziger Homostricher-Milieu der Nachwendezeit

Die Geburtstadt der Montagsdemos hat die Wirren der politischen Veränderungen nicht ohne Blessuren überstanden, die soziale Marktwirtschaft mit allem für und wider erwischt die untrainierten Sachsen ziemlich trocken. Selbst die so sehr herbei gesehnte Ausrichtung der Olympischen Spiele als Hoffnungsstreifen am grauen Horizont geht in die Hose.

Um als vermeintliche Verlierer der Wende nicht auf der Strecke zu bleiben, die Versuchungen der Konsumgesellschaft so richtig abschöpfen zu können, muss bei den gestrandeten Jugendlichen Kohle her für Markenklamotten, Tontechnik, Hairstyling, Skateboard. Da ist der flotte Sex als Stricher mit alten, schwulen Säcken im Dunkel der Stadtparks schon mal eine recht einträgliche Nebeneinkommensquelle. Hier wird nicht geredet, hier wird hingehalten oder hingefasst, je nach Wunsch.

Nach einem Hip-Hop-Konzert wird der siebzehnjährige Steven Bärnstorff erstochen aufgefunden. Die Polizei vermutet einen Raubüberfall, aber die Ermittlungen verdichten immer mehr den Verdacht, dass der knabenhafte Steven seinen Körper für Liebesdienste verkauft haben könnte. Verkauft, um Geld anzusparen für eine Reise über den großen Teich.

Nach einer Jugendweihefeier wird ein weiterer Junge brutal zusammen geschlagen. Die Mordkommission vermutet anfangs einen Serientäter, der seine Opfer gezielt unter den Jugendlichen in der Leipziger Schwulenszene sucht. Die Pressegeier stürzen sich auf das gefundene und Schlagzeilen versprechende Fressen, die Bevölkerung der Messemetropole gerät immer mehr in Panik und die zweite Leipziger Mordkommission immer mehr unter Druck. Polizei- und Gerichtsdirektor entpuppen sich dabei als karrieregeile Schützenhelfer.

Kohlund als leitender Hauptkommissar aber glaubt immer weniger an das Monster von Leipzig, das Stricher wegen Geld und Lust absticht. Dafür haben die beiden Fälle einfach zu wenig gemeinsam.

Bei seinen intensiven Nachforschungen stößt er dann plötzlich und unvermittelt auf Spuren, die auch vor der eigenen Familie nicht Halt und das Zusammenleben zwischenzeitlich unerträglich machen...

 

...den ganzen Tag nix zu tun haben, halten Sie das mal aus. (S. 49)

 

Hart und unverblümt

Kotte schildert den tristen Alltag von Menschen in der trostlosen Sattelitenstadt Leipzig-Grünau, einem riesigen, unpersönlichen 08/15-Plattenbau. Leipzig-Grünau war neben Berlin-Marzahn und Halle-Neustadt eines der Vorzeigeobjekte innerhalb des "Wohnungsbauprogramms der DDR": Mit 36.000 Wohnungen für 100.000 Menschen war Grünau zum Planungsbeginn (1974) die größte zusammenhängende Neubausiedlung im deutschsprachigen Raum.

Diese Ameisen-Anonymität, diese wachsende Verzweiflung der einst so optimistischen Pioniere der friedlichen Revolution und jetzt als Wendeopfer so schwer enttäuschten und desillusionierten Bewohner der Karnickelställe ist ein idealer Nährboden für kriminelle Energie und den Verfall familiärer Strukturen und gesellschaftlicher Normen.

Grünau wird jetzt von der Abrissbirne regiert, die Wohnsilos werden platt gemacht. Leer stehender Wohnraum ist teuer, Leipzig-Grünau verkommt zum Wohnviertel für sozial Schwache. Es mangelt an Lehrstellen und Arbeitsplätzen, und es mangelt an Zukunft.

Kotte ist in seiner Darstellung schonungslos, seine Schilderungen fokussieren auf die Schattenseiten der neu gewonnen Nachwende-Freiheit. Dabei ist er ein sensibler Beobachter, kann sich auf ein enormes Langzeitgedächtnis und seine sauberen Recherchen verlassen. Wir werden auf witzige Weise an Details erinnert wie Präsent-20-Anzüge und Trainingsanzüge vom ASK, an Lutz Jahoda und Klaus Feldmann, an Heinz Rennhack und Bärbel Wachholz, ohne in Jammer-Ostalgie verfallen zu müssen.

In Abriss Leipzig sind viele vertraute DDR-Alltagsnachwehen in ehrliche Worte gepackt. Hier wird Milieu geschildert, dass allzu leicht in Vergessenheit gerät. Deshalb dürfte auch und gerade für viele Krimileser aus der BRD vor 1989 Abriss Leipzig einer spannende Zeitreise in die noch nahe Vergangenheit werden.

Das Kapitel 27 ist quasi ein Krimi im Krimi. Bei der Schilderung einer Wahlveranstaltung im Leipziger Stadtzentrum blicken wir hinter die Kulissen des Wahlkampfes des schwulen Politkarrierekanditaten Felber.

Mutig, Henner Kotte, sehr mutig - und weiter so!

Abriss Leipzig

Henner Kotte, Festa

Abriss Leipzig

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