Weiße Nächte
- Pendragon
- Erschienen: Januar 2008
- 1
- Bielefeld: Pendragon, 2008, Seiten: 200, Originalsprache
4.000 Kilometer und immer noch kein Krimi in Sicht
2008 wurde Rainer Gross für seinen viel gelobten Debütroman Grafeneck mit dem "Glauser" ausgezeichnet. Auch die Krimi-Couch empfahl nachdrücklich die Lektüre dieses ungewöhnlichen Kriminalromans, mit dem der Autor - ähnlich wie Andrea Maria Schenkel zuvor mit Tannöd - die Grenzen des althergebrachten Deutschkrimis auslotete. Folglich war die Vorfreude auf den Nachfolgeroman entsprechend groß, doch leider kam alles ganz anders.
Ein (namenloser) Theologiedozent einer deutschen Universität will mit seinem Motorrad an den Nordkap fahren und nimmt zunächst eher widerwillig die Studentin Myriel mit, die in der Stadt Lulea ihren Freund besuchen möchte. Da man eine lange gemeinsame Strecke vor sich hat, kann man diese schließlich auch zu zweit bewältigen und im Verlauf der Reise finden sich die beiden Motorradfahrer sogar zunehmend sympathisch. Myriel bemerkt, dass ihr Begleiter offenbar aus einem bestimmten Grund an den Nordkap fahren möchte, doch dieser verweigert ihr die Geschichte.
Zu emotional sind die Erinnerungen an eine Fahrt von vor vielen Jahren, die der Dozent mit seiner damaligen Freundin Vera und ihrem gemeinsamen Bekannten Jan unternommen hat. Es war die "klassische" Situation: Zwei Männer, eine Frau und somit fast unvermeidlich ein Mann zu viel. Dumm nur, das sich Vera zunehmend zu Jan hingezogen fühlte. Jan überlebte den gemeinsamen Urlaubstrip damals nicht und der Dozent will nun seine Erinnerungen an die vergangenen Ereignisse wieder auffrischen. Was geschah wirklich vor vielen Jahren und wie konnte es soweit kommen? Schnell wird klar, dass der Zweck seiner Reise auch dazu dient, seinem Leben ein Ende zu setzen, denn genau zu diesem Zweck führt er eine Pistole in seinem Tankrucksack mit sich.
Myriel geht im Dorf einkaufen. Sie bringt mit: eiskalte Milch, Müsli, Eier, Pfirsiche und Bananen, Trockenobst und Nüsse, frisches Brot und Würfelzucker.
"Weil doch die Zuckerdose immer aufgeht", sagte sie.
"Du bist lieb", sage ich.
Dann frühstücken wir. Wir haben Ansichtskarten von Dombas geschrieben und brauchen unterwegs einen Postkasten. Die sind in Norwegen rot. Nur widerwillig schlüpfe ich in das gummierte Regenzeug. Doch auf der Maschine sitzend, mit Helm und Handschuhen, fühle ich mich wohlig eingepackt. Ich wechsle wieder das Kartenblatt: "Troms mit Lofoten".
Abfahrt viertel nach zwölf.
Über 4.000 Kilometer Motorradfahrt füllen die Seiten, doch wo bleibt der Krimi?
Die Strecke bis zum Nordkap zieht sich weit über 4.000 Kilometer lang und selten wurde eine Reise so anschaulich beschrieben. Wenn Sie also gerne nach Skandinavien, speziell nach Norwegen, fahren (möchten), wäre der Roman eine echte Alternative zu den handelsüblichen Reiseführern, denn die ausgewählte Textpassage steht stellvertretend für gefühlte 80 Prozent des Buchinhaltes.
"Nun komm doch endlich mal auf den Punkt und erzähl uns was über die Krimihandlung", werden einige von Ihnen jetzt vermutlich schon leicht ungeduldig rufen - und genau da liegt der weltberühmte Hase im Pfeffer. Ich habe sie nicht gefunden! Zugegeben, schon bei dem bereits erwähnten Tannöd fand ich die Bezeichnung "Krimi" recht großzügig ausgelegt, aber hier handelt es sich doch wohl um eine Mogelpackung. Die Elemente, die einen Krimi auszeichnen, fehlen hier nämlich nahezu in Gänze und so bleiben allein die Fragen, was damals mit Jan passiert ist, was aus Vera wurde und (nicht wirklich) ob sich der Ich-Erzähler tatsächlich umbringt. Zwar werden immer wieder mal kurze Erinnerungen hervorgerufen, die Schritt für Schritt in Richtung Auflösung gehen, aber das war es dann auch schon. Erschwerend kommt hinzu, dass angesichts der Ausgangssituation, die in Frage kommenden Möglichkeiten arg begrenzt sind.
Nur "Pflicht" für Skandinavien-Reisende
Vielleicht hat aber auch der - im Krimigenre nach eigener Einschätzung erfahrene - Rezensent vor lauter Tankstellenstopps, Verpflegungseinkäufen, Zeltaufbauten und Landschaftsbeschreibungen die wenigen relevanten Stellen überlesen.
Für Skandinavien-Fans ein "Pflichtroman der anderen Art", für Krimifans leider ungeeignet, um es höflich zu formulieren. Hoffen wir also beim nächsten Roman von Rainer Gross auf ein zweites Grafeneck.
Rainer Gross, Pendragon
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