Die Schattenflotte
- Rowohlt
- Erschienen: Januar 2008
- 4
- Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2008, Seiten: 224, Originalsprache
Hamburger Geschichte und Seefahrt
Wir begegnen dem Rechtsanwalt Sören Bischop im Jahre 1902 in Hamburg. Die Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft ist unter der Leitung von Generaldirekt Albert Ballin gerade zur größten Schifffahrtsgesellschaft der Welt (Hapag) geworden und hat auf der Hamburger Elbinsel Veddel eine Auswandererstadt gegründet, wo die zahlreichen Emigranten aus ganz Europa nach ärztlicher Untersuchung und Quarantäne in die Staaten überführt werden und bis zu ihrer Abreise hermetisch unter Verschluss gehalten werden.
Aber es gibt offensichtlich doch Schlupflöcher, denn im Rotlicht-Bezirk von St. Pauli trifft Bischops Ziehsohn David auf den jüdischen Auswanderer Simon Levi, gerät mit diesem in Streit und kurz darauf ist der Mann tot. Für die Unschuld Davids sind keine Zeugen aufzubringen, denn die jungen Männer, mit denen er unterwegs war, sind Mitglieder der sozialdemokratischen Bewegung und wegen verbotener Umtriebe schnellstens untergetaucht.
Bischop, der seit Neuestem auch mit einem Fahrrad unterwegs ist, muss sich also darum kümmern, was wirklich passiert ist. Zum Einen muss er die Kumpane seines Sohnes finden und versuchen, sie zu einer entlastenden Zeugenaussage zu bewegen und zum Anderen muss er mit dem Zeugen sprechen, der seinen Sohn im Polizeiprotokoll belastet. Doch als Bischop diesen Zeugen endlich findet, hat dieser soeben sein Leben ausgehaucht, aber sein Mörder hatte keine Zeit mehr, alle Unterlagen an sich zu raffen, so dass Bischop Fragmente einiger Dokumente findet, die auf Machenschaften hinweisen, an denen die Köpfe führender Wirtschaftsunternehmen und der Militärs beteiligt sind. Für diese Leute wird Bischop zur Gefahr ...
Boris Meyn hat rund um das Hamburg der Jahrhundertwende seinen bereits sechsten Krimi bei Rowohlt veröffentlicht, in dem es nicht so sehr um den Fall an sich zu gehen scheint, sondern um die spannende Präsentation der geschichtlichen Umstände vor über hundert Jahren. Dabei kommt er natürlich an der christlichen Seefahrt, der Marine und dem Handel nicht vorbei und auch die Entstehung der Ballin-Stadt muss in dem besonderen Zeitszenario, bei dem man fünf Millionen Menschen über den großen Teich geschippert hat, aufgenommen und verarbeitet werden. Zusätzlich bietet der studierte Kunst- und Bauhistoriker Boris Meyn im Mittelteil des Buches noch zeitgenössische Fotos, die seine Erzählung rund um Schiffe und Auswanderer an und auf der Elbe verdeutlichen. Aber das ist nur ein Bonus für geschichtlich Interessierte.
Das Faszinierende dieses Romans ist der Vergleich von damals und heute, soeben geprägt durch die Gespräche um den Verkauf der Hapag-Lloyd AG, die in dieser Geschichte noch zwei rivalisierende Unternehmen sind, aber ebenfalls schon am großen Transportkuchen mitnaschen wollen. Die Schifffahrtslinien wollen neue Handelsschiffe, die immer größer und stärker sein müssen und gleichzeitig braucht die Marine Schiffe, die schneller und feuerkräftiger sein müssen, als die Schiffe ihrer Gegner. Die deutschen Werften liegen untereinander und mit der Konkurrenz aus Großbritannien im Clinch und die Reichsmarine Wilhelms II. setzt ihre Agenten ein.
Vor diesen Hintergrund setzt Meyn notgedrungen einen Rechtsanwalt mit Sohn, obwohl der Anhang mit den Fakten mindestens ebenso spannend zu lesen ist. Handlung und spannendes Szenario sind nicht so das Metier des Autors, aber die Geschichte dient in idealer Weise als zeitgeschichtliches Dokument der Lebensumstände und ist in diesem Sinne sehr gut gelungen. Sören Bischop und seine Mitstreiter aus der Oberschicht zeigen bei ihren Begegnungen mit Menschen aus der Arbeiterschaft die krasse Diskrepanz zwischen den einzelnen Schichten. Da ist schreiberisch deutlich mehr Leben dahinter, als in vielen "reinen" Kriminalromanen. Wer sich für Hamburg, seine Geschichte und die Seefahrt interessiert, der kann mit diesem Buch wirklich nichts falsch machen, weil er gut unterhalten und gut informiert wird. Alle Anderen werden die 250 Seiten recht schnell aus der Hand legen.
Boris Meyn, Rowohlt
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