Der Nebel von gestern
- Unionsverlag
- Erschienen: Januar 2008
- 2
- Barcelona: Tusquets, 2005, Titel: 'La neblina del ayer', Originalsprache
- Zürich: Unionsverlag, 2008, Seiten: 363, Übersetzt: Hans-Joachim Hartstein
- Zürich: Unionsverlag, 2010, Seiten: 379
Früher oder später
Früher war alles besser. Früher kannt Mario Conde in seinem alten Beruf als Kommissar noch so was wie Begeisterung. Früher konnte man mit einem geregelten Job noch genug Geld verdienen, um eine Familie zu ernähren. Früher war Carlos, der Dünne, wirklich noch ein dünner Mann. Früher konnte man es sich noch leisten, Lebensmittel einzukaufen und hin und wieder ein Festmenü zuzubereiten. Früher, vor der Revolution, gab es noch Bars, Nachtclubs und Casinos auf Kuba, in denen das Nachtleben brodelte. Früher gab es noch Sängerinnen, die mit wahrem Herzblut sangen und in ihren Zuhörern das Feuer der Leidenschaft entfachten. Und aus früheren Zeiten stammen Bücher, für die in den Antiquariaten heutzutage wahre Rekordpreise erzielt werden können.
Leonardo Padura blickt mit Der Nebel von gestern zurück auf ein halbes Jahrhundert nationaler kubanischer Geschichte und rund 300 Jahre Geschichte des Buchdrucks auf Kuba. Sein Held, es ist wieder einmal Mario Conde, inzwischen Endvierziger und seit über zehn Jahren nicht mehr in Reihen der Polizei, ist ein sehr idealistischer Antiquar, stets auf der Suche nach alten Büchern, die er für gute Preise wieder verkaufen kann. In einer heruntergekommenen Villa entdeckt er eine über vierzig Jahre nicht berührte Bibliothek, in der sämtliche Schätze der Buchdruckkunst auf Kuba zu schlummern scheinen. Conde weiß, dass zwischen diesen Büchern das ein oder andere Geheimnis darauf wartet, gelüftet zu werden.
Die Faszination des Boleros
In einem alten Kochbuch entdeckt Conde einen Zeitungsartikel über die Sängerin Violeta del Rio. Da ihm der Name bekannt vorkommt, beginnt er sich für die Frau, ihren Gesang und sodann auch für ihr Schicksal zu interessieren. Warum beendete die so begabte Sängerin ihre Karriere früh und starb kurz darauf eines gewaltsamen Todes? Conde entdeckt nicht nur dass sein eigener Vater von der Faszination der Sängerin wie geblendet war, sondern dass Violeta auch Kontakte in hohe und nicht immer ganz saubere Geschäftskreise hatte. Der Mann an ihrer Seite war Alcides Montes de Oca, der ehemalige Besitzer der von Conde entdeckten Bibliothek und einflussreicher Geschäftsmann in den 1950er Jahren auf Kuba. Doch die Geschäfte im kubanischen Nachtleben hatten mitunter mafiöse Züge. Conde will herausfinden, ob diese Beziehungen Ursache für den angeblichen Freitod der Bolero-Sängerin waren.
Dabei versteht es der Autor wie kein zweiter, anhand weniger Absätze die verrauchte Atmosphäre der kubanischen Nachtclubs der 50er Jahre auferstehen zu lassen. Er vertreibt den Nebel, der uns den Blick auf das Gestern verhüllt und präsentiert uns aus der Sicht weniger fiktiver Zeitzeugen, welch wildes Leben vor über 50 Jahren in Havanna herrschte, aber auch welche Veränderungen die sozialistische Revolution und ihre Nachbeben verursachten, worin die Probleme der Gegenwart ihre Ursache sehen. Padura beschreibt eine zerfallende Stadt, die zu Teilen bereits ihre eigenen Gesetze hat und in der nur noch Platz für die Kunst des Überlebens zu bestehen scheint. Die Kunst des schönen Lebens, Vergnügen, Tanz und Musik, das alles ist verborgen hinter jenem Nebel, dem Nebel von gestern.
Ein trauriges, unvollkommenes Ende
Der Nebel von gestern ist ein wundervoll melancholischer Roman, mit dem Padura wieder einmal die Zustände in Kuba durch seine nüchterne Schilderung kritisiert. Die Art und Weise, wie Conde seinem Schicksal ergeben ist, spricht Bände für die Gemütslage einer ganzen Nation. Nur dadurch, dass er die Vergangenheit in noch dunkleren Farben malt, gemischt mit historischen Fakten, scheint das Leben von heute erträglich. Doch was der Autor über gesellschaftlich-politische Hintergründe schreibt und wie das wilde und sorglose Leben von früher beim Leser ankommt, dazwischen herrscht ein Unterschied. Dieser Unterschied ist die spezielle Magie in den Romanen des Kubaners
Der stetige Versuch, Kritik an Politik und System zu üben, mag dem Autor hier jedoch nur streckenweise gelingen. Der Roman zeigt Ansätze subtilerer Gesellschaftskritik. Ansätze, die sogleich verkümmern. Hier war Padura früher deutlicher. Der Protagonist wurde vom Autor konsequent weiter entwickelt, was als schriftstellerische Stärke gewertet werden muss. Im Vergleich zum grandiosen Havanna-Quartett ist Conde nur noch ein Schatten seiner selbst, sein agieren ist zaghafter, zurückhaltender und seine Leidenschaft und Hingabe zündet seltener. Das Finale schließlich hinterlässt einen etwas unbefriedigenden Nachgeschmack. Welche Möglichkeiten hat der Autor sich nicht erarbeitet, um dann diese Auflösung zu finden. Wer weiß, vielleicht wäre größerer Mut vom System des Heimatlandes des Autors bestraft worden. Wir als Leser in einem tausende Kilometer entfernten und viel kälteren Land hätten es dem Autor ohne Zweifel gedankt.
Leonardo Padura, Unionsverlag
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