Skelett mit Folgen
- Goldmann
- Erschienen: Januar 1975
- 2
- London: Collins, 1970, Titel: 'A Late Phoenix', Originalsprache
- München: Goldmann, 1975, Seiten: 156, Übersetzt: Mechtild Sandberg
Ein allzu flaches Grab führt zu neuem Mord
Im Juni des Jahres 1941 erreichte der II. Weltkrieg auch das kleine Städtchen Berebury in der englischen Grafschaft Callashire. Deutsche Bomber hatten schon mehrfach versucht, die hier produzierenden Rüstungsbetriebe zu zerstören, aber dieses Mal warfen sie ihre tödliche Fracht auch über der Stadt selbst ab. Unter den zahlreichen Häusern, die dabei in die Luft gesprengt wurden, war auch das Heim der Familie Waite, die daraufhin Berebury verließ.
Fach drei Jahrzehnte später liegt das Grundstück noch immer brach. Nie konnte sich die Stadtverwaltung auf einen Bebauungsplan einigen. Nun hat sich ein privater Bewerber durchgesetzt; eine Ladenzeile soll errichtet werden. Die Bauarbeiten beginnen zügig - und kommen jäh zum Erliegen, als in den Ruinen des Kellers das Skelett einer jungen Frau entdeckt wird.
Was zunächst wie ein vermisstes Opfer der Bombenattacke aussah, wird zu einem Mordopfer, als der Polizeipathologe eine Gewehrkugel aus dem Brustkorb zieht. Außerdem war die Frau schwanger aber - sie trug keinen Ehering - nicht verheiratet: 1941 im ländlichen England eine ernste Sache, aus der sich der unwillige Kindsvater möglicherweise mit Hilfe besagter Kugel herauswinden wollte.
Nach so langer Zeit gestalten sich die Ermittlungen schwierig, zumal Superintendent Leyes, der aufbrausende Chef der Kriminalpolizei, dem auf den Fall angesetzten Inspektor C. D. Sloan nur den phlegmatischen Sergeanten Crosby zur Seite stellt. Deshalb dauert es, bis der Kriminalist erkennt, dass jemand bemüht ist, ihn auf eine falsche Spur zu locken. Der Täter lebt noch - und zwar in Berebury, und er oder sie gerät zunehmend in Panik, nach so langer Zeit zur Verantwortung gezogen zu werden. Bald ist alle subtile Manipulation vergessen, es kommt zu einem neuen Mord, und Sloan weiß, es könnte nicht der letzte sein ...
Ein ´kleiner´ aber feiner Klassiker
Wer einmal einen Roman von Catharine Aird gelesen hat, wird sich die Frage kaum verkneifen können, wieso ihre Serie um C. D. Sloan in Deutschland nicht (mehr) veröffentlicht wird. Aird hält qualitativ mit großen Kolleginnen wie Ruth Rendell, Patricia Moyes oder P. D. James mit, aber in Deutschland ist sie heute praktisch vergessen.
Dabei gehören ihre Romane zu den besten jener britischen Schule, die den klassischen "Whodunit?" mit dem modernen "police procedural" verbinden. Der Suche nach dem Motiv und letztlich dem Täter wird die psychische Befindlichkeit der ermittelnden Polizeibeamten gegenübergestellt. Das eine hat seine Auswirkungen auf die andere, denn auch Polizisten sind Menschen, haben Gefühle und ein Privatleben. Sie stehen unter besonderem Druck, weil sie sich beruflich mit oft scheußlichen Verbrechen beschäftigen müssen.
"Skelett mit Folgen" gehört zu den frühen Vertretern dieser Schule. Man erkennt es daran, dass die Verfasserin ihre Geschichte auf knappen 160 Seiten erzählt, während heutzutage mindestens die dreifache Buchstärke üblich ist; Elizabeth George gibt sich Mühe, diesen Wert noch zu verdoppeln. Siehe da, es geht und liest sich fabelhaft, weil Aird sich auf nur einen Fall konzentriert und die Seife im privaten Sektor sehr sparsam dosiert. Also langweilt oder ärgert "Skelett mit Folgen" nicht mit endlos ausgewalzten Eheproblemen, Verantwortungsqualen oder ähnlicher Seelenpein.
Darüber hinaus bedient sich Aird eines Mittels, das - geschickt und gekonnt eingesetzt - eine wahre Wunderwaffe ist: Es nennt sich "Humor", den zu besitzen sich viel zu viele Schriftsteller fälschlich rühmen. Aird hat ihn, und er ist trocken und schwarz. Er hat sogar die Übersetzung glänzend überstanden, was erst recht keine Selbstverständlichkeit ist, aber Mechtild Sandberg (heute Sandberg-Ciletti) gehört nicht grundlos noch immer zu den meistbeschäftigten Vertretern ihrer Zunft.
Alt aber niemals altmodisch
Airds Schreibkunst lässt einen inhaltlich eigentlich verstaubten Kriminalroman erstaunlich frisch wirken. Die Welt des Jahres 1970 wirkt heute fremd. Immer wieder spricht Sloan mit höchstens mittelalten Männern und Frauen, die sich problemlos an den II. Weltkrieg erinnern - zum Zeitpunkt des Geschehens liegt er in Berebury nur ein Vierteljahrhundert in der Vergangenheit und ist auch optisch weiterhin präsent: Trümmergrundstücke mit Bombentrichtern gehören im 21. Jahrhundert ganz sicher nicht mehr zum Stadtbild.
Gleichzeitig wirkt die Gegenwart von 1970 heute erst recht anachronistisch. Superintendent Leyes, ein Repräsentant der ´alten Ordnung´ sitzt selten an seinem Schreibtisch, sondern steht ebenso entsetzt wie fasziniert am Fenster seines Büros: Gegenüber hat eine Diskothek eröffnet, was ihn mit den Vertretern der ´neuen Jugend´ konfrontiert: "Sehen Sie doch, Sloan. Drüber bei ´Dick's Dive´. Da! Das Haar. Es hängt dem Burschen ja fast bis zur Taille. Und Locken dazu!" (S. 156) Allerdings lässt Aird elegant durchblicken, dass für diese Jugend eine ungeplante Schwangerschaft kein Grund mehr ist, zum Gewehr zu greifen ...
Humor als Kontrast zur harten Realität
Die Welt ist ein Irrenhaus, und die Kriminalpolizei von Berebury spiegelt dies wider. Während C. D. Sloan, ´normal´ und fast ein wenig langweilig, den klassischen Kriminalisten gibt, umgibt ihn ein Reigen mehr oder weniger verschrobener Kollegen, um einer allzu melancholischen (= ´skandinavischen´) Grundstimmung entgegen zu wirken.
Da ist neben dem bereits erwähnten Superintendent Leyes vor allem William Crosby, der stets für einen Lacher gut ist. Seine beinahe vorsätzliche Begriffsstutzigkeit, sein Mangel an Einfühlsamkeit oder sein Hang zu verhängnisvollen Rennfahrten mit dem Streifenwagen sind längst zu "running gags" der Serie geworden, die Aird immer wieder geschickt variiert. Die Kollektion der seltsamen Gestalten wird bei Bedarf erweitert: "Er [= Sloan] sprach mit einem ältlichen, missgelaunten und sehr, sehr langsamen Sergeant aus der Kartei, der allgemein als Blitz Brown bekannt war." (S. 72)
Insgesamt geht es in Berebury deutlich gemächlicher zu als in der hektischen Gegenwart eines Reginald Hill oder Stuart MacBride, denen der Humor ebenfalls als wichtiges Stilmittel gilt. Die Kunst besteht darin, den tragischen Kern der Geschichte nicht ins Lächerliche zu ziehen. Aird lässt keinen Zweifel daran, dass der Fall an sich Ernst ist: Eine Frau wurde ermordet, und das zieht eine breite Spur physischer und psychischer Schäden nach sich. Der Krimi-Aspekt bleibt ohne Einschränkung gewahrt - ein wunderbarer Effekt, der nunmehr in den Aufruf zu einer Neuauflage und Fortsetzung der Sloan/Crosby-Serie münden könnte, wäre dieser nicht schon einleitend erfolgt ...
Catherine Aird, Goldmann
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