Der große Jäger
- Zsolnay
- Erschienen: Januar 2008
- 6
- Marseille: Ecailler du sud, 2002, Titel: 'La première empreinte', Originalsprache
- Wien: Zsolnay, 2008, Seiten: 464, Übersetzt: Tobias Scheffel
Der erste Mord in der Geschichte der Menschheit
Ein Krimi aus Frankreich, und er spielt in Marseille. Das alleine ist für viele Rezensenten normalerweise Grund genug, die Messer für einen scharfen Verriss zu wetzen und sich genüsslich über die Unzulänglichkeiten des vorliegenden Werks im Vergleich zu denen des großen - und leider viel zu früh verstorbenen - Meisters Jean-Claude Izzo auszulassen. Erst recht, wenn es sich bei dem unglückseligen Autor um einen Neuling handelt. Bei Xavier-Marie Bonnot liegt die Sache allerdings ein wenig anders. Sein Werk wurde in Frankreich hoch gelobt, mit Preisen bedacht und hat nach gut fünf Jahren endlich den Weg auf den Schreibtisch eines deutschen Übersetzers gefunden (Tobias Scheffel, der seine Arbeit hervorragend gemacht hat).
Ein Serienmörder mit frühgeschichtlichen Motiven
Die Leiche einer Frau wird in der Calanques, einer Küstenregion bei Marseille, aus dem Wasser gefischt. Es handelt sich um Christine Autran, eine bekannte Dozentin für Ur- und Frühgeschichte, deren Spezialgebiet die Le Guen Höhle war. Eine Höhle, die, weil ihr Eingang unter der Wasseroberfläche des Mittelmeeres liegt, erst kurz zuvor entdeckt wurde und faszinierende Höhlenmalereien beherbergt.
Ein aufsehenerregender Fall aber keiner für den "Baron", Commandant Michel De Palma, ein in die Jahre gekommenes Kind von Marseille, geprägt von diesem Schmelztiegel, dessen Verbrechen ihn im Laufe der Jahre zum besten Bullen der Polizei von Marseille haben werden lassen. Er ist mit anderen Morden und mit sich selbst beschäftigt. Der Mord an einem sieben Jahre alten Jungen lässt ihm genauso wenig Ruhe, wie die gerade beendete Beziehung zu Marie. Doch beide Probleme werden überlagert: es tauchen zerstückelte Frauenleichen auf und der Mörder hinterlässt eine Signatur, den Negativabdruck einer Hand, wie sie auch an den Wänden der Le Guen Höhle zu finden sind.
Der Baron ist der erste, der Verbindungen sieht. Reihen entwickelt, wie er es nennt, die er in seinem akribisch geführten Notizbuch festhält und die zum brutalsten Verbrechen seiner Laufbahn führen.
Zwei Jäger und ein Marseille das mehr ist als Kulisse
Ein Erstlingswerk, das sich aufgrund der Kullisse mit Izzo messen muss, und eine Geschichte um einen Serienmörder, von denen der Krimimarkt geradezu überschwemmt wird. Da ist Skepsis angebracht aber die erweist sich bereits nach kurzer Zeit als unbegründet. Xavier Bonnot sucht nicht den an Schockeffekte gebundenen Thrill einer brutalen aber seichten Geschichte, sondern er wollte einen interessanten Ermittler erschaffen, der in einer authentisch wirkenden Umgebung agiert, die ihn geprägt hat.
Das ist ihm gelungen. Michel De Palma ist ein Großstadtbulle, der die Verrohung der Gesellschaft zwar wahrnimmt, sich aber selbst keiner Moral besonders verpflichtet fühlt. Trotzdem ist er sensibel und feingeistig. Er liebt die Oper und muss - bei aller Härte - in manchen Situationen gegen Tränen ankämpfen. Der Baron ist in die Jahre gekommen, denkt an die Pensionierung und muss mit jungen Kollegen zusammenarbeiten, was ihm im Falle des jungen Ermittlers Vidal besonders schwer fällt. "Mein Sohn" nennt er ihn und höchst ungern weiht er ihn in seine Gedankengänge ein, sondern gibt lieber Handlungsanweisung, die ihm erlauben, alles unter Kontrolle zu behalten.
Neben den interessanten Figuren ist es vor allem Bonnots Blick auf Marseille, der seinen Roman auszeichnet. Bonnot war Dokumentarfilmer und in der Tat lesen sich seine Beschreibungen wie Kamerafahrten. Er versteht es, die Stimmung der Umgebung einzufangen und in starken Bildern zu beschreiben. Der Baron sieht die Veränderung der Gesellschaft, die "Moralschicht in Placken abfallen" und die Entwicklung hin zur Barbarei. Bonnot illustriert diese Stimmung mit eindrucksvollen Bildern einer sich entsprechend verändern Großstadt.
Nicht ganz so virtuos gelingt Bonnot die Konstruktion der Krimihandlung. Der erfahrene Krimi-Leser wird dem Täter schneller auf die Schliche kommen, als das "As" De Palma. Das nimmt vor allem dem Mittelteil ein wenig die Spannung. Vielleicht hat Bonnot das ganz bewusst so angelegt, um den Fokus des Lesers auf die Hintergründe zu lenken, die allerdings auch ein wenig konstruiert wirken. Hier muss Bonnot genauso kapitulieren, wie viele andere, bei dem Versuch, die Handlung einer Mordserie glaubhaft und schlüssig psychologisch aufzulösen.
Doch es überwiegen bei weitem die positiven Aspekte von Der große Jäger, was zu einer klaren Empfehlung führt und dem ausdrücklichen Wunsch, dass der nächste Roman von Bonnot weniger als fünf Jahre bis zum Erscheinen in deutscher Sprache benötigt.
Xavier-Marie Bonnot, Zsolnay
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