Die Sehnsucht der Atome
- Eichborn
- Erschienen: Januar 2008
- 10
- Frankfurt am Main: Eichborn, 2008, Seiten: 368, Originalsprache
Zufall, Schicksal oder ein physikalisches Gesetz?
Hannes Jensen zählt seine Tage. Fünf sind es noch. Dann darf sich der reiche Witwer mit erst fünfzig Jahren in den Vorruhestand verabschieden und sich hinkünftig voll und ganz seinem Hobby, der Quantenphysik, widmen. Doch sein allerletzter Fall scheint eine einzige Fehlleistung gewesen zu sein. Denn der bedrohte Amerikaner ist am nächsten Tag tatsächlich tot. Hinzu kommt, dass die beiden zehnjährigen Söhne des Touristen eigenmächtig abgereist sind. Hat das mexikanische Kindermädchen, von dem die Kinder erzählt haben, es könne durch Gebete heilen, etwas mit den merkwürdigen Vorfällen zu tun?
Bevor noch Jensen die Spuren aufnehmen kann, die ihn schnurstracks nach Arizona führen, klingelt an seiner Tür die erblindete Witwe Annik O'Hara, die vom Tod des Amerikaners erfahren hat und selber auf der Suche nach dem Kindermädchen ist. Sie verfügt genau wie Jensen über Zeit und Geld, um einen spontanen Kurzurlaub im Land der unbegrenzten Möglichkeiten anzutreten. Und da sich der Frühpensionär dem überbordenden Charme der jungen Witwe nicht widersetzen kann, treffen sich die beiden schon bald an Bord des nächsten Flugzeugs.
Konflikte und Gemeinsamkeiten
Die Sehnsucht der Atome ist der erste Kriminalroman aus der Feder des Schweizers Linus Reichlin. Aus ungewöhnlichen Einfällen und originellen Zutaten hat er ein wirklich bemerkenswertes Werk entwickelt. Wer glaubt schon, dass sich Regeln der Quantenphysik für flüssig-flockige Unterhaltungsliteratur eignen könnte? Reichlin tritt den Beweis an und er schafft es sogar, nicht nur das Doppelspaltexperiment oder das Verhalten von Elektronen und Protonen anschaulich zu erklären, nein, er entwickelt darüber hinaus bald schon philosophische Ansätze, mit denen sich der stetig schwelende Streit zwischen Naturwissenschaft und Religion auf einen Nenner bringen ließe. Zwar hört es sich bei diesen Zutaten so an, als sei das Werk Intellektuellen vorbehalten, aber das Gegenteil ist der Fall. Reichlin kann tatsächlich trotz solcher Inhalte breit unterhalten.
Besondere Würdigung muss dabei die Figur Hannes Jensen finden. Nicht nur, dass er ein ungewöhnliches Hobby hat. In dessen Kindheit schon begründet der Autor sein ganz besonderes Interesse an der Aufklärung dieses letzten Falles: als kleiner Junge hat er für den Tod seiner Mutter gebetet und tags darauf starb sie bei einem Unfall im Haushalt. Jensen weigert sich seitdem, an die Kraft der Gebete zu glauben, um weiterhin von seiner eigenen Unschuld überzeugt zu sein. Nun sieht er sich erstmals in seinem Leben mit diesem Vorfall wieder konfrontiert. Darüber hinaus ist er der klassische, einsame Wolf: als Deutscher der Liebe wegen nach Belgien ausgewandert und hier auch nach über fünfzehn Jahren nicht Fuß gefasst. Und außerdem hat er auch nach über zwölf Jahren den Tod seiner Frau noch nicht verwunden. Er ist auf dem besten Wege, ein exzentrischer Sonderling zu werden, als ausgerechnet sein letzter Fall für ihn zu einer Lektion besonderen Ausmaßes wird.
Dass ein Kriminalroman zu begeistern vermag, weil er immer wieder auf Grundmotive der physikalischen Lehre zurückgreift, ist bemerkenswert. Verblüffend, wie der Autor es fertig bringt, seine Leser vom Abschalten sämtlicher Logik zu überzeugen und übersinnliche Kräfte, Gebete, Gottes Wille zumindest in die engere Wahl der Erklärungsansätze zu ziehen. Beruhigend, aber auch ernüchternd das Finale, das Dank einer Schlange doch eine irdische Interpretation der Geschehnisse anbietet.
Linus Reichlin, Eichborn
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