Kein Kinderspiel
- Ullstein
- Erschienen: Januar 2000
- 23
- New York: Morrow, 1998, Titel: 'Gone, Baby, Gone', Seiten: 374, Originalsprache
- München: Ullstein, 2000, Seiten: 528, Übersetzt: Andrea Fischer
- Berlin: Ullstein, 2004, Seiten: 524
- Berlin: Ullstein, 2007, Titel: 'Gone baby gone - kein Kinderspiel', Seiten: 524
Lesen ohne Limit
Lehanes Bücher zwingen zum Komplettkauf und damit verbundenen Lesen in chronologischer Reihenfolge. Immer wieder macht er angedeutete Rückblicke auf Schlüsselfakten früherer Romane dieser Krimi-Serie, die sich nur eben diesen Insidern sofort erschließen. Dadurch fühlt man sich säumig und ausgeschlossen aus der Familie der treuen Lehane-Fans, kommt sich vor wie ein Schüler, der nach langer Krankheit den Anschluß zum aktuellen Lernstoff verpasst hat und etwas ratlos rumsitzt. Clevere, umsatzorientierte Taktik, Herr Mr. Lehane!
In "Kein Kinderspiel" prallen wir auf einen Kriminalroman mit einem unwahrscheinlichen Drive: knackige Kapitelabschlusssätze und nahtlose Anschlüsse an das Neue unterstützen das Lesevergnügen und zwingen den Leser fast automatisch, nicht etwa gegen 02.00 oder 03.00 Uhr einfach schlapp zu machen. Lesen ohne Zeitlimit, der Weg scheint das Ziel zu sein.
Wer ein Faible für sehr bildhafte Sprache hat und sich an gelungenen Vergleichen erfreuen kann, ist bei Lehane und seinem Detektivpärchen Angela Gennaro und Patrick Kenzie genau richtig (Kostprobe: "In der Kneipe war es so still wie in einer Kirche vor dem Jawort."). Dieses Duo, gemeinsam im irischen Einwanderermischmasch aus mafiosihafter Cliquenwirtschaft, Selbsterrhaltungbereitschaft die Sinne abstumpfenden, die Gewaltbereitschaft aber anfeuernden Whisky aufgewachsen, besitzt beim Leser einen großen Sympathiebonus.
Gewandelt vom Kriminellen zum unerschrockenen Hüter für Recht und Ordnung stürzen sich die beiden unerschrocken ins Kampfgetümmel und gehen nie einer gefährlichen Situation duckmäuserisch aus dem Wege, wobei ihre Mittel und Methoden mitunter auch im krassen Widerspruch zu den Dienstvorschriften stehen. Aber der Zweck heiligt ja bekanntlich die Mittel. Dabei ist der Zwiespalt zwischen teamfähiger und -verlässlicher, kühler Polizeiarbeit und sexueller Zuneigung höchst unterhaltsam. Mit ihrem Sandkastenfreund und Kaugummifan Bubba (wie ein Bär: einfach zum Kuscheln, aber in kritischen Situationen mit einer hundertprozentg zuverlässigen Verteidigungs- und Angriffslust bei ebensolcher Erfolgsquote) bilden sie ein unschlagbares Team der Thriller-Kriminalliteratur.
Nebenbei erfährt man in dem Buch auch Einiges über die amerikanische Pop-Musik der frühen 80er Jahre und kann sich erfreuen an den witzigen T-Shirts des Bostoner Detektivpärchens. Bei der Schilderung des rüden Wettkampfes der Amateur-Footballer zweier Polizeispezialabteilungen braucht man zwar gehörige Fachkenntnisse, bekommt aber wieder einmal plastisch geschildert, welches Kind und zugleich Tier doch da im (männlichen) Menschen versteckt ist.
Man muss schon recht hart gesotten und kein psychisches Sensibelchen sein, um mit der allseitigen Brutalität klar zu kommen. Kein Kinderspiel eben. Die scheinbar lakonische Anfangsfeststellung, dass "von den täglich 2300 in diesem Land als vermisst gemeldeten Kindern .... jährlich 300 im Nichts verschwinden und vielleicht in Kellern von Pädophilen festgehalten werden" wird zum beklemmenden Thema dieses Lehane-Krimis.
Kindesmisshandlungen sexueller Art sind - da spreche ich vielen Krimi-Couchern sicherlich aus dem Herzen - das widerlichste, was auf unserem Planeten passieren kann. Die körperliche Wehrlosigkeit und psychologische Unreife (sofort fällt einem Bettina Wegeners Chanson "Sind so kleine Hände" wieder ein) pervers zu egoistischen Befriedigung animalischster sexueller Bedürfnisse auszunutzen und die "Objekte" dann irgendwann vor lauter Überdruss wie ein defektes Spielzeug auf den Müll zu schmeißen, ist das Abartigste auf dieser Welt überhaupt. Das macht als Leser unendlich traurig und wütend zugleich, verleitet zum Weglegen des Buches, weil der Mit-Leidensdruck unerträglich wird.
Und wie Lehane diese geistesgestörte Kampfmaschine Roberta Tatt und ihr befremdendes Verhältnis zum pädophilen Ehemann Leon und dessen Kumpel Corwin Earle in ihrer Behausung beschreibt, das zählt wohl zu den härtesten zehn Buchseiten, die jemals aufgeschrieben worden sind. Da beruhigt es wenig sich einzureden, dass es sich hier "nur" um eine Story handelt. Automatisch erinnert man sich an die eingangs erwähnten 300 im Nichts verschwundenden Kinder pro Jahr. Das ist ja nicht ein rein amerikanischer Tatbestand, wie die Medien uns immer wieder zeigen (müssen).
Wenn dann aber im Rücken solcher verrohten Triebtäter "ein ovales Loch von der Größe einer Suppenschüssel" gähnt, glaubt man an so etwas wie Gottes langsam mahlende Mühlen; aber das davor Geschehene ist nicht wieder gutzumachen und der seelische Druck wird dem empfindlichen Leser nicht abgenommen.
Lehane legt uns mit "Kein Kinderspiel" einen spannenden, nerven- und seelenaufreibenden Thriller vor, in dem der verdächtige Personenkreis dieser Kindesentführung (und hervorragend suggerierten Kindesmisshandlung!) groß, aber zugleich übersichtlich ist und vielfach wechselt:
91°, meiner Einschätzung nicht ganz so überzeugend und um einiges depremierender wie Absender unbekannt. Das liegt vielleicht daran, dass hier dem Leser ein ekliges Tabu-Thema schonungslos um die Ohren gehauen wird. Der Unhappy-End-Schluss fordert ja auch zu Diskussionen heraus.
"Kein Kinderspiel" sollte man aber lesen, um für das versteckte alltägliche Grauen wachgerüttelt und sensibilisiert zu werden. Wohl auch deshalb wurde "Kein Kinderspiel" mit dem Deutschen Krimipreis (2001, 3. Platz internationale Rubrik) gewürdigt. Es ist zweifelsohne auch eines der Werke aus der Rubrik "Bücher, die man nicht vergisst".
Dennis Lehane, Ullstein
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