Die schwarze Kathedrale
- Droemer Knaur
- Erschienen: Januar 2000
- 13
- London: Phoenix, 1999, Titel: 'The Unburied', Seiten: 389, Originalsprache
- München: Droemer Knaur, 2000, Seiten: 477, Übersetzt: Sigrid Langhaeuser
- Augsburg: Weltbild, 2002, Seiten: 477
- München: Knaur, 2004, Seiten: 477
- München: Knaur, 2005, Seiten: 477
- Augsburg: Weltbild, 2007, Seiten: 478
Spannend, kundig, rätselhaft: ein historischer Krimi, der seinem Genre Ehre macht!
An einem bitterkalten Tag in der Vorweihnachtszeit des Jahres 1881 begibt sich Edward Courtine, Historiker und Dozent der Universität in Cambridge, auf eine Reise in das alte südenglische Städtchen Thurchester. Austin Fickling, der dort als Lehrer für Mathematik an einer kleinen Schule unterrichtet, hat ihn eingeladen. Courtine ist verblüfft; mehr als zwanzig Jahre hat er seinen ehemals besten Freund nicht mehr gesehen, den er mitverantwortlich dafür macht, dass seine Ehefrau ihn verliess. Aber er ist neugierig und einsam, und außerdem gibt es für ihn auch einen "dienstlichen" Grund, Thurchester einen Besuch abzustatten: In der Bibliothek des Domkapitels vermutet er ein altes Dokument, das eine unter Historikern lange offene Frage entscheiden und Courtine einigen Ruhm eintragen könnte - Ruhm, der ihm gut zupass käme, möchte er sich doch für ein hohes akademisches Amt bewerben.
Thurchester stellt sich als Ort heraus, an dem die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Die riesige Kathedrale im Zentrum bestimmt das Stadtbild; wie sich herausstellt, nicht nur architektonisch. Courtine findet schnell heraus, dass es heftig gärt unter den Mitgliedern des mächtigen Domkapitels, das schon seit dem Mittelalter die Geschicke Thurchesters zu einem guten Teil bestimmt. Die geistlichen Herren sind einander spinnefeind. Ohne es zu ahnen, gerät Courtine in ein Spinnennetz alter Intrigen. Auch Fickling scheint in die Ereignisse verwickelt zu sein. Courtine fragt sich, wieso ihn der ehemalige Gefährte überhaupt eingeladen hat, denn Fickling macht kaum Anstalten, die alte Freundschaft wieder aufleben zu lassen. Statt dessen ist er nervös und scheint mit Hoffen und gleichzeitig mit Bangen ein mysteriöses, kurz bevorstehendes Ereignis zu erwarten. Wohin schleicht Fickling des Nachts heimlich? Was geht in der abgesperrten Kathedrale vor sich? Wer ist der geheimnisvolle, reiche Mr. Steenix, der sein Haus wie eine Festung gesichert hat? Wieso lädt er, der sonst niemals Besuch empfängt, Courtine und Fickling großzügig dorthin ein - und wer bringt ihn noch am selben Abend auf brutale Weise um?
Am lebendigen Leib eingemauert
Noch hat sich der Schrecken über die Bluttat nicht gelegt, als ein zweites Verbrechen offenbart wird: Arbeiter finden bei Umbauarbeiten im Inneren der alten Kathedrale in einer Nische hinter einer steinernen Gedenktafel die Leiche eines Mannes - gefesselt, geknebelt und erstickt, nachdem man ihn lebendigen Leibes dort eingemauert hat. Das Entsetzen weicht der Verwunderung, als man erkennt, dass der Körper seit über zweihundert Jahren dort gelegen haben muss.
Der grausige Fund rührt an einem uralten Geheimnis Thurchesters. Zu den ungelösten Rätseln der Stadtgeschichte gehört der Tod des Domschatzmeisters William Burgoyne im Jahre 1641. Der mächtige Kirchenmann hatte sich wegen seiner kompromisslosen Amtsführung zahlreiche Feinde unter den übrigen Domkapitularen gemacht. Kurz nach seiner Ankündigung, ein unglaubliches Verbrechen in den Reihen der Domherren aufdecken zu wollen, begrub ihn in der Kathedrale ein Baugerüst und zerschmetterte seinen Körper bis zur Unkenntlichkeit. Nun stellt sich heraus, dass dieses Opfer gar nicht Burgoyne war, denn seine Leiche ist es, die in der Mauernische gefunden wurde.
Courtine bemüht sich verzweifelt, die Übersicht zu behalten. Er erkennt die zahlreichen Ungereimtheiten im Mordfall Steenix, den das Domkapitel in enger Zusammenarbeit mit dem pompös-unfähigen Polizeichef Antrobus auffällig hastig "geklärt" wissen möchte. Der "Schuldige" ist rasch gefunden - ein junger Mann, der Steenix täglich seine Mahlzeiten ins Haus brachte. Doch Courtine mag angesichts seiner eigenen unbeholfenen Ermittlungen an diese Erklärung nicht glauben. Er kommt allmählich einem groß angelegtem Komplott auf die Spur. Doch Courtine, dem es gelang, den Tathergang des Mordes an William Burgoyne zu rekonstruieren, fehlen die Beweise. Er verlässt Thurchester, ohne dass jemand zur Rechenschaft gezogen werden kann. Erst vier Jahrzehnte später vervollständigt Philip Barthram, ein ehemaliger Chorknabe aus Thurchester und zufällig Zeuge der Ereignisse in der Mordnacht, das Puzzle ...
Historischer Krimi? Oder viktorianischer Schauerroman?
"Die schwarze Kathedrale" stellt eine vorzügliche Mischung aus historischem Krimi und viktorianischem Schauerroman dar. Uralte Geheimnisse, Intrigen, Verschwörungen, finstere Machenschaften, zwielichtige Kirchenfürsten, Betrug, Verrat und Mord - das sind die Elemente, aus denen Charles Palliser seine Geschichte zusammensetzt. Dieses Rezept hat noch immer zuverlässig seine Wirkung getan und Langeweile an langen Leseabenden verscheucht. Auf die richtige Mischung kommt es dabei an, und Palliser ist ein guter Apotheker. Was wie eine klassische Geistergeschichte aus der Feder Henry (oder besser M. R.) James´ beginnt, mündet in eine spannende und vertrackte Krimihandlung, die Charles Dickens ersonnen haben könnte.
Palliser weiss als Historiker sein Fachwissen geschickt in den Dienst eines abenteuerlichen Thrillerpuzzles zu stellen. Die düsteren Geheimnisse von Thurchester werden schlüssig in der "offiziellen" Geschichte verankert. Freilich übertreibt es der Autor ein wenig: Er möchte nicht nur eine, sondern gleich drei Geschichten erzählen - vom Steenix-Mord 1881 (mit einer Coda 1919), vom Burgoyne-Rätsel 1641 und - wieder 1881 - von einer Intrige innerhalb der Historikerzunft. Nummer Eins ist fesselnd, wenn auch ein wenig zu verwickelt, um zu jedem Zeitpunkt einzuleuchten, Nummer Zwei spannungsreich und vorbildlich in der Entwicklung, Nummer Drei wahrscheinlich nur für den Fachmann wirklich von Interesse. Insgesamt fügen sich diese drei Handlungsstränge niemals zu einem harmonischen Ganzen. Es bleibt allerdings zu fragen, ob dies überhaupt in Pallisers Absicht lag. Die Ereignisse von 1641 weisen auffällige Parallelen zum Geschehen von 1881 auf. Das bleibt den Beteiligten allerdings stets verborgen. Letztlich bleibt auch der Steenix-Mord ein historisches Rätsel, wenn es dieses Mal auch nicht zweieinhalb Jahrhundert dauert, bis es gelöst werden kann.
Niemand ist, wie er auf den ersten Blick scheint
Die Figuren der "Schwarzen Kathedrale" sind gut durchgezeichnet - und sehr "menschlich": Niemand ist, wie er oder sie auf den ersten Blick erscheint, und alle haben sie etwas zu verbergen. Davon ist Edward Courtine, der ehrenhafte Wissenschaftler, keineswegs ausgenommen. Sein scheinbar so erfülltes Leben erweist sich als trist und leer und darüber hinaus als Lüge, mit der er sich selbst zweieinhalb Jahrzehnte betrogen hat. Aber auch als Wissenschaftler ist er nicht so objektiv und unbestechlich, wie er sich selbst gern glauben machen möchte. In der Wolfsgrube des Domkapitels von Thurchester ist er allerdings nur eine Maus, die ebenso zutraulich wie ahnungslos ihrem Ende entgegentrollt.
Im Schatten der baufälligen Kathedrale findet ein Kampf ganz anderer Größenordnung statt. Courtine muss erleben, wie das Kartenhaus seines Lebens und seiner selbstgefälligen Überzeugungen Stück für Stück zusammenfällt. Dabei meint Courtine, anders als sein Ex-Freund Fickling, mit beiden Beinen fest auf der Erde zu stehen. Das ausgehende 19. Jahrhundert ist eine Welt, in der die moderne Wissenschaft - davon ist Courtine, Kind der Aufklärung, fest überzeugt - schon bald alle Fragen erklären und alle Probleme lösen kann. Als Historiker müsste er es eigentlich besser wissen: Die Welt mag sich verändern, doch die Menschen bleiben dieselben, und die Konflikte der Vergangenheit lösen sich im Licht einer verheissungsvollen Gegenwart und strahlenden Zukunft nicht zwangsläufig in Wohlgefallen auf. Letztlich kann sich Courtine glücklich schätzen, dass man ihn "nur" betrügt; er kommt immerhin mit dem Leben davon und findet sogar die Kraft, seinem Leben endlich eine neue Richtung zu geben; wie wir aus dem fiktiven Nachwort zum "Courtine-Bericht" erfahren, hat er nicht nur die begehrte Stellung bekommen, sondern auch noch einmal geheiratet: fast ein Happy-End, und das einzige, das Palliser seinem Publikum gönnt.
Spannender Thriller, wenn auch leicht sperrig
"Die schwarze Kathedrale" ist ein spannender, leicht sperriger Thriller, der die Vergangenheit nicht als blosse Schablone benutzt, sondern ihre besonderen Regeln achtet und logisch in die Handlung einzubeziehen weiß. Die häufigen Abschweifungen und einige Längen und tote Gleise in der Handlungsführung lassen sich deshalb leicht verschmerzen. Charles Palliser arbeitet als Schriftsteller weiterhin an sich. Der Fortschritt zu "Quincunx", seinem monumentalen, kaum lesbaren Erstling, ist deutlich: Die ausladenden Stimmungsbilder und Milieustudien einer untergegangenen Epoche werden zunehmend dem Bestreben untergeordnet, eine richtige Geschichte zu erzählen. Warten wir ab, wie Palliser auf seinem Weg weiter vorankommt!
Charles Palliser, Droemer Knaur
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