Neun Nächte

  • Luchterhand
  • Erschienen: Januar 2006
  • 3
  • São Paulo: Companhia das Letras, 2002, Titel: 'Nove noites', Originalsprache
  • München: Luchterhand, 2006, Seiten: 2004, Übersetzt: Karin von Schweder-Schreiner
  • München: btb, 2007, Seiten: 205, Übersetzt: Karin von Schweder-Schreiner
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Thomas Kürten
82°1001

Krimi-Couch Rezension vonDez 2007

Spurensuche am Amazonas

Wer war Buell Quain? Forschen Sie im Internet, fragen Sie Google. Sie werden eine ganze Reihe von Verweisen auf den Roman Neun Nächte von Bernardo Carvalho finden. Lassen Sie den mal außen vor, suchen Sie weiter, suchen Sie die Essenz! Recht bald werden Sie einige Links finden zu Internetseiten, die Ihnen eine kurze Biographie liefern. Ein junger Amerikaner, Anthropologiestudent, der im Alter von sechsundzwanzig Jahren nach Brasilien kommt und rund ein Jahr später, am 2. August 1939 mitten im Amazonasdschungel stirbt, offenbar ein Selbstmord. Suchen Sie weiter, aber seien Sie gewarnt: Das Internet gibt nicht viel mehr her.

Doch warum brachte sich der junge Forscher um? Ein Mann, der durchaus eine erfolgreiche Zukunft als Wissenschaftler hätte haben können, denn trotz seiner erst siebenundzwanzig Jahre galt er mit bereits 4 Publikationen als hoffnungsvolles Talent. War es wirklich eine unheilbare Krankheit, die er nicht durchleiden wollte? Oder war es ein Freitod aufgrund unerfüllter Leidenschaft? Hatte sich der junge Mann bei den Indianern im Urwald verliebt und durfte nicht heiraten? Oder hatte er sich in eine junge Assistentin in Sao Paulo verguckt, die sich von ihm aufgrund von Gerüchten abwandte? Welche Gerüchte? Oder hatte seine Ehefrau in USA von einer Affäre erfahren? Welche Ehefrau? Welche Affäre? Oder aber wollte Buell Quain ein Zeichen setzen, dass man die Kraho-Indianer besser in Ruhe lässt und nicht erforscht? Wollte er etwa das Massaker, das ein Jahr nach seinem Freitod an den Kraho stattfand, dadurch verhindern? War fehlendes Geld ein Motiv? Konnte er die Trennung seiner Eltern nicht verkraften? Oder aber war es vielleicht gar kein Selbstmord, sondern Mord?

Neun Nächte, acht Briefe - oder doch nur sieben?

Nach all diesen Fragen, drängt sich eine große Frage in den Vordergrund: Warum sollte das alles nach über 60 Jahren noch einen Menschen interessieren? Und genau hier macht der Autor einen Kunstgriff, er zitiert zum einen aus Aufzeichnungen eines Freundes von Quain, der kurz nach dessen Tod von den Kraho acht Briefe übergeben bekam. Aber wer war der achte Empfänger, denn nur sieben scheinen je bei ihren Adressaten angekommen zu sein.

Zum anderen aber erzählt der Autor die Geschichte aus der Perspektive einer Person, die sich durchaus für die Schicksale der Ureinwohner des Amazonasbeckens interessiert, die schon als Kind bei ihnen war. Jemand der hier aufgewachsen ist bei einem Vater, welcher aus der Landverteilungspolitik der 60er Jahre große Profite geschlagen und die Indianer vertrieben hat. Und gerade als der Roman zu einer belanglosen Spurensuche eines Fanatikers ohne Profil zu werden droht, fängt dieser Ich-Erzähler an, von ebendiesen Erinnerungen aus seiner Kindheit zu erzählen. Dieser inzwischen rund 40-jährige Journalist wirkt nun so authentisch, dass man ihm das hohe Interesse an einer tragischen Person wie Buell Quain von dieser Stelle an abnimmt und sich mit ihm auf eine spannende, verwirrende und immer wieder neue Fragen aufwerfende Spurensuche am Amazonas begibt.

Der Autor spielt aber nicht nur mit der Perspektive, er jongliert zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Sein Ich-Erzähler findet Dokumente, aus denen Vermutungen entwickelt und wieder verworfen werden. Erinnerungen vermischen sich mit Berichten von Zeitzeugen, eigene Erfahrungen mit den Erzählungen des jungen Amerikaners. Und der unermüdlich Suchende übernimmt beinahe die Rolle des Menschen, den er zu verstehen sucht: Er begibt sich zu den immer noch im Urwald lebenden Kraho, wandelt auf Quains Spuren und begreift, dass er nicht begreifen kann. Als Fremder unter Fremden fühlt er sich verloren und ständiger Gefahr ausgesetzt. Dabei wird jedoch klar, dass allein seine Anwesenheit ein stilles und heimliches Gift ist, das die Sitten der Ureinwohner langsam und leise zerstört.

An jeder Liane ein anderes Motiv

Im brasilianischen Urwald werden die Wurzeln unseres kulturellen Selbstverständnisses in Frage gestellt. Begriffe wie Familie, Lebensraum und Existenz erhalten hier neue Definitionen, die in unserer zivilisierten Welt nicht bekannt sind. Carvalho bezeichnet die Indianer am Amazonas als "Waisen der Zivilisation". Besser hätte er es kaum beschreiben können. Die hier lebenden Stämme bekriegen sich, manche werden vernichtet, sterben aus, andere wiederum gründen sich gerade neu. Ihre Geschichte reicht nur wenige Jahrzehnte zurück, was davor war ist unbekannt. Doch der Einfluss der Zivilisation, der Anthropologen und Ethnologen, wirkt sich unmittelbar auf ihr Verhalten aus und vernichtet ihre Lebensgrundlage. Vielleicht ist es diese Erkenntnis, die Buell Quain zum Selbstmord veranlasst hat. Die Erkenntnis, das seine berufliche Hingabe sicherer als jedes Mordinstrument ganze Völker ausrotten kann.

Vielleicht war es aber auch nur einer der oben schon genannten, ganz "banalen" Gründe. Wie dem auch sei, eigentlich ist ja längst Gras über die Sache gewachsen. Und im Urwald sogar schneller und dichter als anderswo. Carvalho gelingt es, eine Gratwanderung zwischen Fakten und Vermutungen zu vollführen, die mit immer wieder neuen Interpretationsmöglichkeiten aufwartet. Hierin liegt die große Klasse dieses Romans.

Neun Nächte

Bernardo Carvalho, Luchterhand

Neun Nächte

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