Stiller Zorn
- DuMont
- Erschienen: Januar 1999
- 3
- New York: Carroll & Graf, 1992, Titel: 'The Long-Legged Fly', Originalsprache
- Köln: DuMont, 1999, Titel: 'Die langbeinige Fliege', Seiten: 197, Übersetzt: Georg Schmidt
- Köln: DuMont, 2013, Seiten: 192
Böse Geister, überall um mein Bett herum
Stiller Zorn ist die Wiederveröffentlichung des ebenfalls im Dumont-Verlag 1999 erschienenen Romans Die langbeinige Fliege, dessen Titel die wortgetreue Übersetzung des Originals The Long-Legged Fly darstellt. Verzichtet hat man in der Neuauflage auf das kurze, informative Nachwort des Übersetzers Georg Schmidt (warum auch immer), ansonsten scheinen beide Ausgaben identisch zu sein. Empfiehlt sich also für Buchsammler Ausschau nach der Erstversion zu halten, die es aber nur noch antiquarisch zu erwerben gibt, dafür natürlich wunderbar in die seinerzeit von Martin Compart herausgegebene exzellente "Dumont Noir"-Reihe passt.
Leider überlebte "Dumont Noir" nicht lang genug, um alle sechs Bände der Serie um den dunkelhäutigen Ermittler/Autor Lew Griffin auf Deutsch präsentieren. Mit dem zweiten Band Nachtfalter (Moth) war Schluss. Bleibt zu hoffen, dass die fehlenden vier Bände diesmal nachgereicht werden (laut James Sallis ist dies tatsächlich geplant).
Der erste Auftritt Lew Griffins in einem Roman ist ein wagemutiger. Denn eigentlich ist es ein Quartett. Die Suche nach vier vermissten Personen in sechsundzwanzig Jahren. 1964 versucht Griffin die Aktivistin Corene Davis zu finden; 1970 ist es die sweet little sixteen Cordelia Clayson; 1984 die Schwester eines Mannes, den Griffin in einem "Behüteten Haus" kennen- und schätzen lernt, während er sich von heftigen Alkoholexzessen erholt und 1990, Griffin ist mittlerweile einigermaßen erfolgreicher Autor, ist es sein eigener Sohn, der sich nach einem Frankreich-Trip buchstäblich in Luft auflöst.
Am Anfang steht ein brutaler Mord. Begangen von Lew Griffin. "Das war für Angie" raunt er einem Toten zu, den er regelrecht abgeschlachtet hat. Ein Vergewaltiger, Serienkiller oder Todesbote. Vielleicht auch alles zusammen. Bleibt im Vagen wie so vieles. Eins ist sicher: Lew Griffin ist ein zorniger Mann, ein trauriger und unbehauster noch dazu. Obwohl Gewalt den gesamten Text über präsent bleibt, wird sie derart explizit wie im ersten Kapitel nicht mehr präsentiert.
Die Marschrichtung scheint klar: Ein hardboiled-Roman mit einem Protagonisten, der auch vor drastischen Maßnahmen nicht zurückschreckt. Der hartnäckig ermittelt, um vermisste Personen zu finden. Doch obwohl das Buch die Vorgaben scheinbar erfüllt, werden sie doch gebrochen. Zwar ist Griffin die harte Spürnase, die nicht aufgibt, aber er kann selbst im Erfolgsfall nicht unbedingt für ein glückliches Ende sorgen, im schlimmsten Fall bleibt der Gesuchte auch einfach verschwunden. Griffin kommt zwar bis zum Punkt des Verschwindens, doch danach ist Schluss. Ein Loch ist entstanden und niemand ist da, es zu füllen. Und wieder wird der Detektiv alles wegsaufen, was sich in Reichweite findet, wird in einem Sog untergehen und mit surrealistischen Visionen wieder auftauchen, um für einen Moment zu begreifen, wer der Schöpfer der Realität ist.
Nicht erst mit der letzten Seite dürfte klar sein, dass Stiller Zorn eine Herausforderung für den Freund klassischer Spannungsliteratur darstellen dürfte. (Parodiemodus an) Fesselndes Kopfkino, spannend, atmosphärisch dicht und voller überraschender Wendungen, gefüllt mit plastischen Charakterzeichnungen (Parodiemodus aus), all das bietet der Roman und doch auf eine eigene, die klassische Spannungsdramaturgie nahezu völlig ignorierenden Weise. Es geht nicht um die Darstellung möglichst abscheulicher Verbrechen und wie ein angeschlagener, aber lauterer Recke sie aufklärt. Lew Griffins Blick auf die Welt ist zwar der eines Mannes, der viel erlebt hat, einiges weiß und wenig glaubt, aber es ist auch der erschreckte Blick des ewig Suchenden, der nur konstatieren kann, dass und wie Menschen auf unterschiedliche Weise verloren gehen können. Immerhin gibt es einmal eine Art von Happy End, doch auch dies nur unter Verlusten.
Stiller Zorn ist ein Roman von explizitem Existenzialismus. Der Mensch als getriebenes Wesen, auf sich selbst zurückgeworfen, allein. Griffin als bestes Beispiel, der sich nach Nähe sehnt, es aber in Gemeinschaft kaum aushält, und wenn es doch einmal gelingt, macht ihm die ferne Sehnsucht der Partnerin einen Strich durch die Rechnung. Es ist natürlich Paris, das ruft.
Ohne, dass es den Fluss der Erzählung(en) zerstört, bringt Sallis noch Thomas Hobbes ins Spiel, den Griffin bodenständig interpretiert:
Je mehr Macht man innehat, sagte Hobbes, desto mehr Macht ist erforderlich, um diese Macht zu erhalten. Nur, wenn man ein Niemand ist, wenn man nichts hat, was irgendjemand haben möchte, sei man frei, werde in Ruhe gelassen und könne sich ungestört den kleinen Dingen des Alltags widmen. […] Und mein Volk, die Neger, so wurde mir klar, waren die absoluten Hobbesianer.
Existenzialismus, Hobbes und der Blues. Explizit Bessie Smith wird des Öfteren erwähnt, sie erscheint als so etwas wie die Patin des Romans. Eine weitere Getriebene in einer feindlichen Umwelt, mit einer außergewöhnlichen Begabung und dem Willen diese auszuleben, Herrin der eigenen Persönlichkeit und Lebens zu sein, im von Rassismus geprägten Süden der USA - bis die Realität in Form eines nie hundertprozentig geklärten Unfalltods allen Plänen einen Strich durch die Rechnung macht. "It’s just the Blues I’m singing", ein Song, der von Unterdrückung handelt, vom Dulden und langsamem Aufbegehren. Der von Verbrechen Handelt, von Freundschaft, Menschlichkeit, den unzähligen Arten unterzugehen, von Drogen, Prostitution und Gewalt. Das Böse bekommt kein individuelles Gesicht, keinen Erzschurken, der die Fäden in der Hand hält und so lange damit spielt, bis er eliminiert wird. Das Böse ist einfach da, wie Erfolge und Scheitern, wie die Liebe und die Einsamkeit. Sallis kann den Blues.
Selbst bei Amazon finden sich Perlentaucher ein: "Lew Griffin ist denn auch weniger der coole Schnüffler, der am Ende den Bösewicht besiegt, und die Blondine kriegt, sondern der lakonische und desillusionierte Gelegenheitsermittler, der die Rothaarige bekommt und auch wieder verliert."
Dem kann man nur zustimmen, ebenso wie "Hamlets" Fazit auf der gleichen Plattform: Stiller Zorn ist ein außergewöhnliches und großartiges Buch - und James Sallis ist und bleibt ein Autor, dem ich viele Leser wünsche!"
James Sallis, DuMont
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