Das Unschuldslamm
- Ullstein
- Erschienen: Januar 1966
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- New York: Delacorte Press, 1965, Titel: 'He who hesitates', Seiten: 218, Originalsprache
- Frankfurt am Main; Berlin: Ullstein, 1966, Seiten: 151, Übersetzt: Martin Lewitt
- Frankfurt am Main; Berlin; Wien: Ullstein, 1984, Seiten: 151, Übersetzt: Martin Lewitt
Der Reisende, das Mädchen & der große Eisschrank
Roger Broome ist ein Hinterwäldler wie aus dem Bilderbuch. Als Holzschnitzer verbringt er seine Tage meist unter der Fuchtel seiner Mutter in einem abgelegenen Provinzort, doch einmal im Jahr packt er den alten Pickup mit Waren voll und fährt ins 300 km entfernte Isola. In der Großstadt gingen die Geschäfte dieses Mal gut, so dass Roger sich eigentlich auf den Heimweg machen könnte, wie auch die Mutter es fordert.
Doch Roger hat ein Problem, das er gern der Polizei mitteilen würde. Sobald er freilich einen Anlauf unternimmt, das 87. Revier zu betreten, kommt ihm etwas dazwischen. Roger findet viele neue Freunde, die ihn von seinem Vorhaben ablenken. Außerdem ist da die hübsche Amelia, die sich in den naiven Naturburschen verguckt hat. Auch Roger mag sie sehr, obwohl ihn diese dumme Sache mit Molly in der Nacht zuvor bedrückt ...
Es ist wie verhext: Nicht einmal als ihn zwei Polizeibeamte in der Pension aufsuchen, in der Roger sich einquartiert hat, findet er die richtigen Worte für sein Anliegen. In den Keller des Hauses wurde just eingebrochen. Für die Polizei ist das lästige Routine, denn schließlich wurde nur ein großer, leerer Kühlschrank gestohlen, der nicht einmal funktionierte. Kein Grund für den liebenswürdigen Roger, so meinen die Beamten, das Rendezvous mit Amelia abzusagen, die ihm wie schon gesagt richtig unter die Haut gegangen ist ...
Das Übliche einmal ganz anders
Ein Krimi aus der Serie um das 87. Polizeirevier, in dem das Revier und seine Beamten nur in wenigen Absätzen und Nebensätzen Erwähnung finden? So etwas konnte sich vermutlich nur Ed McBain erlauben, der nach 18 Romanfolgen seiner bekannten Serie genau wusste, dass sie gut genug eingeführt war, um mit ihr 'spielen' zu können. Viele lang laufenden Krimi-Serien leiden unter Ermüdungserscheinungen, wie ihre Fans leidvoll wissen. Man möchte die alten Helden in neuen Geschichten erleben, die sich gleichzeitig nicht allzu sehr vom bereits Bekannten unterscheiden. Das ist ein arges Problem, das nicht viele Schriftsteller so selbstbewusst und elegant, so spannend und überraschend, so voller Schrecken und Humor lösen können.
Zunächst wartet man auf das Übliche: Ein Verbrechen wird begangen, die Polizei - hier die des 87. Reviers - erscheint auf der Bildfläche, die Ermittlungen beginnen, während parallel dazu die Aktivitäten des Täters beschrieben werden, bis die Ereignisse im Finale zusammenlaufen. Doch McBain bricht völlig mit diesem Muster. Da gibt es offenbar gar kein Verbrechen. Stattdessen stolpert ein Landei durch die große Stadt Isola, trifft merkwürdige und etwas zwielichtige Zeitgenossen, macht einem Mädchen schöne Augen - und versucht den Mut aufzubringen, einen Polizisten anzusprechen.
Leider ist Roger Broome kein Geistesriese. Sein Leben verläuft in tief ausgefahrenen Geleisen, das Denken fällt ihm schwer, und die Worte kommen irgendwie nie so aus seinem Mund, wie er sie meint: Er ist wirklich sehr zögerlich, wie der Originaltitel ihn treffend charakterisiert. Ein echtes Problem ist das, wie uns, die wir fragen, wohin diese Geschichte eigentlich führen soll, allmählich dämmert, denn Roger steckt in Schwierigkeiten. Fragen wir uns zunächst, ob jemand den Provinzler übers Ohr gehauen hat, so merken wir langsam aber sicher, dass Roger selbst ein düsteres Geheimnis hütet, das er mit der Polizei teilen möchte - und tunlichst sollte, denn was ihn in der Vornacht umtrieb, lauert schon wieder dicht unter der Oberfläche ...
Viele Männer, Frauen und Kinder trifft Roger in den wenigen Stunden seines Aufenthaltes, doch sie alle bleiben völlig ahnungslos. Mit trügerisch einfach gebauten, kurzen Sätzen gelingt es McBain, diese Tatsache absolut glaubhaft darzustellen. In einer großen Stadt wie Isola kann es geschehen, dass der Wolf in Gestalt des Unschuldslamm unentdeckt bleibt ...
Ein harmloser Mann mit gefährlichen Wutausbrüchen
Mit Roger Broome ist McBain ein bemerkenswerter Übeltäter gelungen. 'Schurke' mag man ihn selbst dann nicht nennen, als endlich enthüllt wird, was er getan hat - und wieder tun wird. Hier treibt kein cartoonesk überhöhter, ebenso teuflischer wie genialer Serienkiller sein Unwesen, sondern ein Mann, der in der Menge verschwindet - nicht weil er es darauf anlegt, sondern weil er die meiste Zeit wahrhaftig ein reiner Tor ist, dem man nichts Böses zutraut.
McBain deutet nur an, was mit Roger nicht stimmt bzw. worin sein Verhalten wurzelt. Die übermächtige Mutter, die ihren schon erwachsenen Sohn noch immer wie ein kleines Kind behandelt und gängelt, bis sie ihn in den Irrsinn getrieben hat, war schon 1965 ein alter Hut. Wie man dieses Thema als höllisch spannend aber vordergründig darstellen kann, hatte kaum fünf Jahre zuvor Alfred Hitchcock mit der Verfilmung von Robert Blochs Thriller "Psycho" genial unter Beweis gestellt; er hatte seinen Job freilich so gut gemacht, dass sich das Muttersöhnchen mit Hirnknacks rasch in ein Klischee verwandelte, das viel zu viele Schriftsteller und Drehbuchautoren aufgriffen.
Ganz leise geht dagegen McBain zu Werke. Der Schrecken schleicht förmlich heran. Als er losbricht, lässt ihn der Verfasser eine völlig unerwartete Richtung nehmen. Das hat nichts zu tun mit dem forcierten Twist, der sich in der modernen Thrillerliteratur so lästig eingenistet hat. McBain negiert nicht um des Effekts willen seine so sorgfältig konstruierte Geschichte, sondern löst sie bei aller Überraschung absolut logisch auf.
Während Roger ein Unschuldslamm mit dunkler Seite ist, gleicht ihm Amelia, die trotz ihrer Jugend viel gesundes Selbstvertrauen und 'Erfahrungen' mit Männern hat, in ihrem offenen, unschuldigen Wesen. Sie vertraut dem großen, freundlichen, sympathisch unbeholfenen Mann und hat (im Gegensatz zu uns Lesern) keine Ahnung, auf welchem dünnen Eis sie wandelt. So entlässt sie McBain auch aus der Handlung; die letzte Ironie besteht darin, dass sie wiederum nicht weiß, wie viele zukünftige Mollys sie - hoffentlich - vor einem hässlichen Ende bewahrt hat.
Im Grunde überrascht es angesichts eines so fabelhaft ersonnenen und umgesetzten Plots nicht, dass der Autor auf seine Serienfiguren verzichten kann. Steve Carella - der nicht einmal namentlich genannt wird - und einige seiner Kollegen 'sehen' wir nur durch Rogers Augen. Er beobachtet sie, hört Gesprächsfetzen mit und versucht sich daraus ein Bild von den Beamten zu machen. Roger will erzählen, was er getan hat, aber er muss Vertrauen zu den Männern haben, denen er sich stellt. Leider haben die Beamten des 87. Reviers keine Ahnung von Rogers Nöten - oder seiner Existenz. Als wir ihn auf der letzten Buchseite verlassen, hat er gerade Steve Carella und Meyer Meyer dabei ertappt, wie sie sich eine feierabendliche Schneeballschlacht liefern; was für ein Schlussbild!
Ed McBain, Ullstein
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