Die Gejagten
- List
- Erschienen: Januar 1997
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- New York: Bantam, 1994, Titel: 'Dirty White Boys', Seiten: 436, Originalsprache
- München: Goldmann, 2000, Seiten: 537
- München; Leipzig: List, 1997, Seiten: 431, Übersetzt: Bernhard Josef
Gut und Böse im unerbittlichen Kampf
Staatliche Justizvollzugsanstalt McAlester, US-Staat Oklahoma; mit Verbrechern der übelsten Sorte hoffnungslos überbelegte Hölle auf Erden; Brutstätte der Gewalt und des Lasters; nicht Ort der Sühne und der Rehabilitation, sondern Strafanstalt à la américaine: Auge um Auge, Zahn um Zahn lautet die Devise, an die sich Wachpersonal und Gefangene gleichermaßen treulich halten. Der Alltag hinter diesen Gittern ist ein ständiger Überlebenskampf. Wer sich hier nicht brutal durchsetzt, wird buchstäblich zerbrochen an Leib und Seele.
Unter denen, die wie Tiere gehalten werden und sich wie solche verhalten, erfreut sich Lamar Pyes eines besonderen Rufes, was wenig Gutes verheißt. Ungebildet, aber hoch intelligent stellt er ein besonders gefährliches Exemplar seiner gefürchteten Art dar: Lamar gehört zum "weißen Abschaum" des amerikanischen Mittelwestens, steht ganz unten auf der gesellschaftlichen Leiter, war praktisch von Geburt an für ein Leben als Krimineller bestimmt. Im Alter von 38 Jahren kann er auf eine eindrucksvolle, fast drei Jahrzehnte währende Karriere zurückblicken, die Raub, Körperverletzung, Vergewaltigung und Mord einschließt und ihn als notorischen Wiederholungstäter lebenslang ohne Chance auf Begnadigung nach McAlester gebracht hat. Dort hat er ein Terrorregime installiert, das ihm ein vergleichsweise angenehmes Leben sichert.
Lamar zur Seite steht sein ihm hündisch ergebener Cousin Odell, ein debiler und missgestalteter Riese, der Angst, Schmerz oder Mitleid nicht kennt und sogar den hartgesottenen Knastgangs eine Heidenangst einjagt. Das unheilige Trio wird komplettiert durch den weichlichen, psychisch labilen Möchtegern-Künstler Richard Peed, der in seiner Angst bereit ist, jedem Befehl seines Meisters und Beschützers Lamar bedingungslos Folge zu leisten.
Als Lamar eines Tages gezwungen ist, in Notwehr das prominente Mitglied einer einflussreichen Gang zu töten, weiß er, dass nur die Flucht ihn retten kann. Odell und Peed gehen mit ihm auf eine ziellose Schreckensfahrt quer durch den Mittelwesten. Den Ausbrechern entgegen stellt sich der legendäre Lieutenant C. D. Henderson, der es in Sachen Verstand und Rücksichtslosigkeit durchaus mit Lamar Pyes aufnehmen kann. Aber Henderson wird alt und hängt an der Flasche. Das Schicksal will es, dass statt des Lieutenants zwei Beamte der Highway Patrol an die Flüchtigen geraten. Sergeant Russell "Bud" Pewtie ist ein Veteran mit 25 Dienstjahren - und ein Ehebrecher, der seine Frau ausgerechnet mit der Gattin seines Partners Ted Pepper hintergeht. Zwar weiß dieser davon noch nichts, aber er beginnt gerade etwas zu ahnen.
Die eigenen Sorgen lenken die beiden Polizisten ab; eine Schwäche, die sie dem gerissenen Lamar direkt in die Hände spielt. Bud und Ted sind weder die ersten noch die letzten Opfer entlang einer Blutspur, die sich durch mehrere Bundesstaaten ziehen wird, bis sich Jäger und Gejagte endlich gegenüber stehen ...
Thriller für die untere Körperregion des Mannes
Was für ein Roman! Wahrlich kein "gutes" Buch, aber ein Hochgeschwindigkeits-Pageturner, ein höllisch spannender, famos geschriebener (und übersetzter) Reißer ohne Kompromisse, ein Tiefschlag für den feinsinnigen (oder dünnblütigen) Leser, ein Stromstoß für den deutschen Krimifreund, der in den letzten Jahren gar zu oft mit Reißbrett-Historienschinken und betulichen Landhaus-Krimilein eingelullt wurde.
Natürlich ist Die Gejagten auch und primär ein Testosteron-Thriller, der dumme Kerls mit dicken Muckis aufeinander los gehen lässt. Fragt sich nur, was daran so verwerflich sein soll, wenn es so gut unterhält! Vielleicht liegt es daran, dass Stephen Hunter zwar ein eigenartiger Zeitgenosse ist (dazu weiter unten mehr), aber sein schriftstellerisches Handwerk versteht: Hier rührt jemand auch an unangenehme Wahrheiten, die politisch korrekt denkende Zeitgenossen lieber unter den Tisch zu kehren pflegen.
Die Bürger der USA sehen sich selbst gern als einig Volk der Tüchtigen und Gottesfürchtigen. Gnade Gott aber denen, die diesen Standards nicht genügen können oder gar wollen. Sie sehen sich mit einer Gnadenlosigkeit ins gesellschaftliche Abseits gedrängt, der den angeblich sittenverderbten Europäer schaudern lässt. Die erstaunliche Leistungskraft des US-Systems beschränkt sich nicht auf die Wirtschaft oder das Militär: Auch die amerikanischen Gewaltverbrecher stellen in ihrer Berufssparte die Weltspitze; kein Wunder, da sie doch quasi gezüchtet werden. Ganze Gesellschaftsschichten werden systematisch ausgegrenzt, vergessen, als Menschenmüll aussortiert: tickende menschliche Zeitbomben, die immer wieder mit mörderischer Wucht explodieren, statt entschärft zu werden.
Wie man in den Wald hineinruft, so knallt es heraus
Zu den vielen Unglücklichen, die dieses System hervorbrachte, gehört der "White Trash" des Mittelwestens. Im scheinheiligen Bible Belt der USA vegetiert eine verarmte weiße Minderheit, die anders als die schwarze Mitbürgerschaft nicht 'nur' diskriminiert, sondern offen verachtet wird, weil sie 'versagt', wo jeder ordentliche Amerikaner weißer Hautfarbe gefälligst zu reüssieren hat. Ohne Arbeit, ohne Chance, gebiert eine Generation von sozialen und wirtschaftlichen Verlierern die nächste; ein Prozess, der zuverlässig von Frustration und Zorn, von Alkohol und Feuerwaffen begleitet wird. Dies ist das verrottete Gesindel, das uns in einschlägigen Hollywood-Filmen so angenehm erschauern lässt. Aber Rednecks, Hillbillies und "Dirty White Boys" gibt es wirklich (auch wenn Stephen Hunter natürlich ordentlich auf die Thriller-Tube drückt). Den letzten Schliff in der Ausbildung zum Gewohnheitsverbrecher erhalten sie in den US-Gefängnissen, in denen zum Frommen der brav gebliebenen Bürger ordentlich gebüßt statt rehabilitiert wird: Die Rache ist der Gerechtigkeit jederzeit vorzuziehen. Was diese Form des Strafvollzugs eben auch ausspeien kann, stellt uns Hunter ebenso drastisch wie überzeugend vor.
Aber Vorsicht: Hunter stellt das System selbst nie in Frage! Statt dessen ist er offensichtlich fasziniert von jenem rohen, urweltlichen Stamm, der inmitten der (degenerierten) Zivilisation nach seinen eigenen Regeln lebt:
"Bud schaute sich die Fotos der beiden Männer an und sah, was er schon so oft gesehen hatte - typisch asoziale Hinterwäldler mit stechenden Augen, in denen entweder irgendein obskurer Groll gegen die Welt schwelte oder die schiere Dummheit. Ihr Verstand funktionierte nicht wie der der meisten Menschen; das machte sie so anders - als sähen sogar ihre Schaltkreise unterschiedlich aus. Killer und falsche Fuffziger waren das, skrupellos und primitiv - und trotzdem, verflucht noch mal, sie hatten alle Mumm in den Knochen. So was von nackter Aggression. Eine enge Vertrautheit mit der Gewalt - sie suhlten sich geradezu darin."
Auf diesem Weg mag man dem Autoren allerdings nicht folgen, so eloquent er sein Anliegen auch vorzutragen weiß! Einfach ist es allerdings nicht, ihm zu widerstehen, denn er kann wie gesagt höllisch gut schreiben.
Vorsicht: ein Sudel-Autor mit Talent und Witz!
Und dann sind da immer wieder Überraschungen, mit denen man in einer simplen Mein-ist-die-Rache-und-immer-Feuer-frei!-Geschichte nicht gerechnet hätte - böse Seitenhiebe, die genau den Finger darauf legen, was faul ist im Staate und Verbrecher vom Schlage eines Lamar Pye hervorbringt und dabei Gesetz und Ordnung keineswegs schonen. Überhaupt gibt es - so unglaubhaft es nach dem bisher Gesagten vielleicht erscheinen mag - überhaupt keine Helden (weiß) oder Schurken (schwarz) in dieser Geschichte. Besonders Bud Pewtie erweist sich zwar im Job als unverwüstliche Ein-Mann-Armee, die im Privaten jedoch jämmerlich versagt. Seine traurigen Auftritte als Vater, Ehemann und vor allem als untreuer Ehemann, der auch noch die Geliebte schmählich belügt, sind Hunter ebenso eindringlich wie quälend gut gelungen.
Doch am intensivsten wirkt Die Gejagten dort, wo Hunter Lamar Pyes Leben als rasanten Lauf über eine Rasierklinge beschreibt. Er ist selbst nach einer Jahrzehnte währenden Gangsterkarriere längst nicht der Untermensch (dieser böse Titel wird hier mit Bedacht gewählt), zu dem ihn seine gar gesetzestreuen Mitmenschen abgestempelt haben. Er ist sich durchaus über sich und sein Leben im Klaren - und er kennt auch noch Gefühle, die über die Freude am Morden und Terrorisieren hinausgehen. Aber immer wenn man meint, Lamar Pye über seine menschliche Seite besser kennen- und schätzen zu lernen, bricht er unvermittelt in einen neuen Gewaltakt aus: Fern des verlogenen Hollywood-Klischees wird in Die Gejagten nie umständlich und begleitet von vielen frommen Worten Unrecht mit Unrecht vergolten. Gewalt ist hier ein Phänomen, das in der Regel ohne unmittelbaren Grund förmlich explodieren kann. Was freilich nach und nach über die Vergangenheit der Ausbrecher bekannt wird, verrät freilich, dass hier eine Saat aufgegangen ist, die schon viel früher ausgestreut wurde.
Stephen Hunter, List
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