Der Fall mit den Pralinen
- Ullstein
- Erschienen: Januar 1931
- 5
- London: Collins, 1929, Titel: 'The Poisoned Chocolates Case', Originalsprache
- Zürich: Diogenes, 1988, Seiten: 241, Übersetzt: Gerd van Bebber
- Berlin: Ullstein, 1931, Titel: 'Der Detektiv-Klub', Seiten: 249, Bemerkung: Die gelben Ullstein-Bücher; Bd. 120
- Frankfurt am Main: Fischer, 2009, Seiten: 256, Übersetzt: Gerd van Bebber, Bemerkung: Mit einem Nachwort von Lars Schafft
- Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1962, Titel: 'Die vergifteten Pralinen', Seiten: 187, Übersetzt: Gerd van Bebber
- München: Heyne, 1974, Titel: 'Die vergifteten Pralinen', Seiten: 158, Übersetzt: Gerd van Bebber
Krimi-Spaß vom Feinsten
Der Londoner "Kriminalzirkel", eine kleine - nur sechs Mitglieder gehören ihm an - aber feine Gesellschaft eifriger Hobby-Kriminologen, steht vor seiner Bewährungsprobe. Roger Sheringham, der selbst Krimis schreibt und den "Zirkel" gegründet hat, ruft zur Ermittlung im Mordfall Bendix auf: Im ehrenwerten Rainbow-Club am Piccadilly Circus war dem Baronet Sir Eustace Pennefather eine Schachtel mit Pralinen zugegangen; laut einem beiliegendem Brief eine Werbesendung der Firma Mason & Sons, die er, der Süßigkeiten nicht ausstehen kann, dem Unternehmer Graham Bendix überreichte. Dieser verschenkte sie an seine Gattin Joan, die eifrig davon aß und kurz darauf einen schrecklichen Tod starb: Die Pralinen waren mit Nitrobenzol versetzt! Bendix, der ebenfalls genascht hatte, kam nur knapp mit dem Leben davon.
Der Anschlag galt offenbar Sir Eustace, der als Spieler und Wüstling viele Feinde hat. Die Polizei tappt im dunkeln, denn als Indizien gibt es nur die Pralinen, die Schachtel, das Packpapier und den gefälschten Begleitbrief. Der Fall steht kurz davor zu den Akten gelegt zu werden. In dieser Situation erklärt sich Chefinspektor Moresby von Scotland Yard bereit, seinen alten Freund Sheringham und den "Kriminalzirkel" ihr Glück versuchen zu lassen.
Die Ermittler sind: Sheringham selbst, der Anwalt Sir Charles Wildman, die Dramatikerin Mabel Fielder-Flemming, die Schriftstellerin Alicia Dammers, der Krimi-Autor Morton Harrogate Bradley und der unscheinbare Mr. Ambrose Chitterwick. Eifrig beginnen sie zu fahnden - und alle finden sie den Täter! Allerdings kommt jeder Detektiv zu einer völlig anderen Auflösung. Wer hat Recht? Hat überhaupt jemand Recht? Oder haben womöglich alle ein bisschen Recht? Die Spannung steigt und findet ihren Höhepunkt in einem wahrlich überraschenden Finale ...
Eine Welt zwischen den Zeiten
Die Regeln achten und trotzdem geistreich mit ihnen spielen: Wenige Krimi-Schriftsteller beherrschen diese Kunst so fabelhaft wie Anthony Berkeley. Seine Romane sind stets eine Lektüregenuss, und Der Fall mit den Pralinen nimmt unter ihnen als doppelte Empfehlung eine Spitzenstellung ein.
Psychologie spielt zwar bereits eine Rolle im Geschehen. Die Wirklichkeit ist dennoch so fern wie möglich, wenn Berkeley sein kriminalistisches Planspiel in Gang setzt. Der Fall mit den Pralinen erschien 1929, ein Jahr, das der realen Welt neben den üblichen politischen Krisen und sozialen Ungerechtigkeiten eine verheerende Wirtschaftskrise brachte.
Davon ist in Roger Sheringhams begrenzten Universum nichts zu spüren. Hier herrscht zumindest in den besseren Kreisen ein durch den "Großen Krieg" zwar unterbrochener aber noch präsenter und gemächlich-gemütlicher Alltag. Auch ein Gentleman darf inzwischen sein Geld durch Arbeit verdienen, doch an die große Glocke gehängt wird dies nicht. Gern bleibt man - z. B. in elitären Clubs - unter sich und wahrt die Form. Das macht es möglich, Umgang mit einem Sir Eustache Pennefather zu pflegen und seine Eskapaden zu ignorieren. Immerhin ist er ein Mann von Adel, was noch immer mit Privilegien verbunden ist: Die Polizei kann Sir Eustache nicht befragen, wenn er es nicht wünscht.
Zu viele Köche ...
Freilich ist dieser Frieden trügerisch. Streit ist vielleicht des Gentlemans unwürdig, wird aber leicht vom Zaun gebrochen. Die starren Benimmregeln der Oberschicht bilden auch eine schützende Rüstung, doch wenn es unter der Oberfläche gärt, wird diese aufgeweicht. Kommt ein Hieb dann plötzlich durch, fällt die Reaktion umso heftiger aus.
Diese Erfahrung muss auch Roger Sheringham machen. Er hat sich seine eigene Nische geschaffen. Der "Kriminalzirkel" widmet sich abseits pöbelhafter Neugier dem intellektuellen Spiel mit dem Verbrechen. So sehen sich jedenfalls die Mitglieder. Es dauert nur kurze Zeit, bis Berkeley diese gönnerhafte Hybris zerreißt.
Der Anlass ist trügerisch harmlos: Sheringham stellt sich vor den Zirkel und inszeniert einen sportlichen Wettkampf, der dem echten Engländer bekanntlich über alles geht. Dass der Anlass ein moralisch eher verwerflicher ist, wird ignoriert bzw. bemäntelt: Womöglich findet man ja den Täter und kann der Polizei und damit der Gerechtigkeit dienlich sein!
Wie unwahrscheinlich dies ist, wissen sowohl Sheringham als auch seine Mitstreiter sowie Chefinspektor Moresby. Der Schein bleibt jedoch gewahrt - zunächst, denn die Ermittlungen entwickeln eine ungesunde Eigendynamik. Sechs intelligente aber von sich selbst sehr eingenommene Möchtegern-Kriminologen nehmen ihre Arbeit auf. Sie haben genaue Kenntnis vom Wesen der Fahndung; dies glauben sie wenigstens, denn tatsächlich sind und bleiben sie Amateure.
... ersticken im Brei
So kommt es, wie es wohl kommen muss: Eifrig und egoistisch ermitteln die sechs ´Detektive´ und richten ein heilloses Durcheinander an. Dies inszeniert Verfasser Berkeley als ganz große Krimi-Kunst. Er präsentiert sechs Lösungsvorschläge, die stets auf denselben Fakten und auf den wenigen Indizien basieren - eine erstaunliche Leistung, fällt es weniger talentierten Krimiautoren bekanntlich schwer genug, nur eine überzeugende Auflösung zu finden ...
Sheringhams "Kriminalzirkel" ist als Spiegelung des realen "Detection Club" zu sehen, den berühmte englische Krimiautoren (und Autorinnen!) wie Agatha Christie, Dorothy L. Sayers, G. K. Chesterton, Ronald Knox oder eben Anthony Berkeley 1928 in London gründeten. Zwar klärte man keine rätselhaften Fälle auf, aber man tauschte sich aus und formulierte u. a. die zehn klassischen Regeln für einen "fairen´ Krimi, die dem Leser ein Miträtseln ermöglichten und aus dem Hut gezauberte oder falsche Indizien und Lösungen ächteten.
Diese Regeln waren eher Leitlinien, obwohl sie nicht nur viele Mitglieder des "Detection Clubs" ernster nahmen als sie zugeben mochten. Berkeley legt sie dem Fall mit den Pralinen jedenfalls zu Grunde. Anschließend zeigt er, die Rolle des mitratenden Lesers übernehmend, wie sich sechs Wege zur Wahrheit konstruieren lassen.
Uns ergeht es wie den konsternierten Mitgliedern des Zirkels: Jede Erklärung wirkt zunächst überzeugend. Im Anschluss wird jedes Fallkonstrukt streng den "Regeln" unterworfen. Jetzt zeigen sich plötzlich Lücken, die zwar offenbar aber von Berkeley sorgfältig vertuscht worden waren: "Sag dem Leser möglichst lautstark, was er zu denken hat, dann wird er es schon denken!", enthüllt Mr. Bradley ein elementares Instrument des erfahrenen Krimiautoren. Was freilich nicht verhindert, dass zumindest seine Leser Mr. Berkeley gleich sechsmal auf den Leim gehen ...
Die böse Tat als pikantes Spiel
Bereits vor mehr als zwei Jahrhunderten schrieb Thomas de Quincey (1785-1859) in seinem Essay "Mord als schöne Kunst betrachtet" über die Faszination, die das Verbrechen auf die (von ihm nicht betroffenen) Menschen ausübt. Daran hat sich bis auf den heutigen Tag nichts geändert, und auch der "Kriminalzirkel" speist sich aus dieser Quelle. Wie de Quincey beschließt Anthony Berkeley dies als Tatsache aber nicht ernst zu nehmen. Folgerichtig ist Der Fall mit den Pralinen ein sehr humorvoll geschriebener (und übersetzter!) Roman, so man (hoffentlich) über einen Sinn für Sarkasmus, Übertreibung und Anspielungen verfügt.
Jede Figur ist überzeichnet oder sogar Parodie, wie es der Club-Kulisse als Hort britischer Exzentriker wohl ansteht. Dem besser informierten Krimi-Literaten bleibe es überlassen herauszufinden, an welche Freunde und Kollegen aus dem "Detection Club" Berkeley darüber hinaus dachte, als er Mabel Fielder-Flemming, Alicia Dammers oder Morton Bradley fiktive Gestalten annehmen ließ.
Roger Sheringham selbst bildet keine Ausnahme. Als Mensch ist er eitel, als Detektiv mindestens so unfähig wie seine Mitstreiter aus dem Zirkel. Auf eine Identifikationsfigur verzichtet Berkeley gänzlich, auch einen "Watson" (als "the stupid friend of the detective" wird er in den "Regeln" bezeichnet) gibt es nicht. Er ist überflüssig, denn die Fragen stellen sich die Figuren dieses Mal selbst. Obwohl sie dabei voller Selbstbewusstsein im dunkeln tappen, sollte der Leser wach sein: Der Fall mit den Pralinen erfordert mit seinen sechs Facetten einige Aufmerksamkeit. Die sollte man schon aufbringen, denn das Werk lohnt es mit Krimi-Spaß vom Feinsten!
Anthony Berkeley, Ullstein
Deine Meinung zu »Der Fall mit den Pralinen«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!