Plötzliche Stille
- Blanvalet
- Erschienen: Januar 2002
- 2
- London: Collins, 2000, Titel: 'Silent Playgrounds', Seiten: 325, Originalsprache
- München: Blanvalet, 2002, Seiten: 415, Übersetzt: Doris Styron
- München: Goldmann, 2003, Seiten: 412
- München: Goldmann, 2006, Seiten: 415
Hohe Sachkenntnis, menschliche und glaubwürdige Figuren
Ein sorgfältig aufgebauter und stimmungsvoller Krimi, in dessen Mittelpunkt eher die beteiligten Menschen stehen als irgendwelche brutale Action. Es geht um zwei verschwundene Frauen und ein bedrohtes kleines Mädchen - und natürlich um die Umstände, wie es zu dieser Situation kommen konnte.
Zwei junge Frauen und ein kleines Mädchen sind verschwunden - alle im Park. Die nordenglische Industriestadt Sheffield verfügt über mehrere schöne Parks, die meisten durchflossen von Flüßchen und Bächen, an denen verfallene Wassermühlen einst Schmieden und Handwerksbetriebe antrieben. Dies ist das alte Herzland der industriellen Revolution des 18. Jahrhunderts.
Doch im Jahre 2000 floriert in Sheffield eine andere Art von Industrie: der Drogenhandel. Diese Szene bildet nicht den Mittelpunkt des Geschehens, sondern seinen unsichtbaren Hintergrund. Vor dieser Leinwand entfalten sich mehrere Dramen. Meist steht eine Frau im Zentrum der Handlungsstränge, einmal auch ein Kind.
An den Wochentagen liegt der große Park, in dem Suzanne Milner ihre Joggingrunden dreht, verlassen da. Die Stille unter den schattigen Bäumen ist ihr manchmal unheimlich. Auch die sechsjährige Lucy, die Tochter von Suzannes Nachbarin Jane, spielt gerne im Park. Die stillgelegte Mühle Shepherd Wheel hat es ihr besonders angetan - sie hat dort einen Spielkameraden: Tamby. Er beschützt sie vor dem unheimlichen Ashman. Tamby sagt ihr immer, sie solle so still wie eine Maus sein. Denn wenn die Monster sich zeigen, muss man sich verstecken.
Noch sind die Monster im Park.
Natürlich geht Lucy nie allein in den Park. Sie hat immer ein Kindermädchen dabei. Das war bis vor wenigen Wochen die hübsche Sophie. Doch seit diese verschwunden ist, wird Lucy von der 17-jährigen Emma begleitet. Leider verschwindet Emma immer wieder, um Leute zu besuchen.
Als Lucy am gleichen Tag, als Suzanne einen jungen Mann aus Shepherd Wheel herauskommen sieht, verschwindet, löst dies bei Suzanne und Jane Panik aus. Sie sucht Lucy, findet aber nur die tote Emma: am Grunde des Kanals der Wassermühle. Lucy wird am Abend völlig unversehrt gefunden.
Inspektor Steve McCarthy, ein recht strenger und geschäftsmäßiger Typ, der nach oben kommen will, hält die Befürchtungen der beiden alleinstehenden Frauen Jane und Suzanne zunächst für übertrieben. Bald darauf stößt man per Zufall auf die Leiche von Sophie Dutton, Emmas Vorgängerin. McCarthy überdenkt sein vorschnelles urteil.
Für Lucy steht bald fest: Die Monster sind in der Nachbarschaft.
Die Kindermädchen Emma und Sophie hatten in einem Studentenhaus neben Janes und Suzannes beiden Reihenhäuschen gewohnt. Im Studentenhaus findet die Polizei auf dem Dachboden ein große Tüte voll Ecstacy - was geht hier eigentlich wirklich vor?, fragt sich Inspektor McCarthy. Bei der Suche nach Verbindungen zwischen den beiden Frauen und dem jungen Mann, den Suzanne Milner gesehen zu haben glaubt, stellt sich heraus, dass alle drei miteinander verwandt waren. Und Ashley Reid, der junge Mann, ist Teil eines Rehabilitierungsprojekts, an dem Suzanne psycholinguistische Forschungen anstellt.
Als Inspektor McCarthy von der völlig verängstigten und mit einem schweren Schuldkomplex belasteten Suzanne herausbekommt, dass sie von Ashley Tonbandaufnahmen hatte - sie sind verschwunden -, verdächtigt er sie der Behinderung seiner Arbeit. Die arme Suzanne, die dringend psychologische Hilfe benötigt, ist dadurch am Boden zerstört. Etwas kopflos ermittelt sie auf eigene Faust.
Die Lage spitzt sich zu, als sie Ashley Reid für eine Nacht bei sich aufnimmt, dort ein Brand ausbricht und Ashley anscheinend darin umkommt. Wenig später werden Lucy und Suzannes kleiner Sohn Michael von einem Unbekannten entführt. Die kleine Lucy hat sich getäuscht: Tamby scheint nicht ihr Freund zu sein.
Die Monster sind in Lucys Haus...
Auf den letzten 50 Seiten war es mir unmöglich, das Buch aus der Hand zu legen - so spannend ist das Finale geschildert. Wir betrachten das Geschehen mit den unschuldigen Augen der kleinen Lucy, die versucht, sehr tapfer zu sein und ihren Entführer zu überlisten. Während dessen hetzt Steve McCarthy zu Janes Haus, um Lucy zu beschützen - zu spät. Und Suzanne hat sich aufgemacht, um die Wahrheit über Ashley Reid herauszufinden, nicht ahnend, wozu er fähig ist...
Mit sehr viel Orts- und Menschenkenntnis baut die polnischstämmige Autorin aus Sheffield (dem Buch ist ein polnischer Grabspruch vorangestellt) die Bühne für das spannende Geschehen auf. Suzanne mag ja nicht die sympathischste Frauenfigur der Literaturgeschichte sein, könnte aber unter den Top Ten der mitleiderregendsten landen. Dennoch ist gerade sie es, die die Geschehnisse um die ermordeten Frauen in Gang setzt und im Finale für einen Höhepunkt sorgt. Sie gewinnt zudem Steve McCarthys Herz, von dem man nie erwartet hätte, dass er dazu in der Lage sei.
Die Drogengeschichte ist der Aufhänger für ein Familiendrama, dessen Ende sich seit Jahrzehnten angebahnt hat und das nun zu einem blutigen Abschluss kommt. Es ist das Drama der Familie Reid, und Auslöser ist der skrupellose ´Don Juan´ Phillip Reid, der seine Kinder und seine Frau sitzenließ, nun aber an Jane Fieldings Seite unvermutet wieder auftaucht.
Inspektor McCarthy und seine Kollegen brauchen den größeren Teil des Buches, um diese komplizierte Geschichte aufzudröseln (das kann für den Leser ebenfalls recht anstrengend sein: Er muss sich viele Namen merken). Ihr Schock sitzt umso tiefer, als sie entdecken, dass der Verursacher des Dramas die ganze Zeit, unter falschem Namen, direkt vor ihrer Nase saß.
Drogen und Familiendrama sind die Ursache für das Verhalten der Kinder in der Familie Reid: Emma, Sophie, Ashley und Simon (der die Drogen herstellte, die Emma und Ashley verkauften) gerieten in ernsthafte Gefahr, echte Drogenkriminelle zu werden. Suzanne ist ahnungslose Zeugin dieses Vorgangs und wird so ebenso ein Opfer wie das letzte - und unschuldigste - Mitglied der Reids: Lucy.
Etwas distanzierter betrachtet ist dies die biblische Geschichte von den "Sünden der Väter", die bis ins xte Glied vererbt werden. Die Autorin erzählt uns sehr glaubhaft, dass sich diese Geschichte noch heute Tag für Tag ereignet. Das Alltägliche nimmt bei ihr bedrohlichen Charakter an, die Spannung zwischen dem was tatsächlich passiert und dem, was sich die Figuren lediglich einbilden oder erträumen, ist ständig vorhanden, denn der Unterschied ist verwischt.
Das Vertraute ist verhängnisvoll, Sicherheit gibt es daher nirgendwo. Denn die Familien und Ehen, die Reah schildert, sind samt und sonders zerbrochen und unvollständig. Für Kinder kein Schutz. Die Folge: stille, leere Spielplätze (O-Titel: "silent playgrounds").
Etwas erstaunt bemerkte ich, dass sich die Autorin bei ihrer Sheffield-Beschreibung einmal wiederholt. Angesichts des sorgfältigen Lektorats durch Verlag und Freunde ist dies recht merkwürdig. Auch im Mittelteil konnte ich über einige längere Beschreibungen, die dem Aufbau einer Stimmung dienen, hinweglesen.
Die Polizeiarbeit beschreibt Reah nicht sonderlich eingehend. Obwohl die Verhöre sehr genau geschildert werden, kommt doch die Vermittlung von gerichtsmedizinischen Fakten stets ohne Erklärungen aus - in diesem Aspekt ist Reah weit von Patricia Cornwell und Kathy Reichs entfernt, die uns mit unappetitlichen Fakten über verwesende Leichen informieren. Ich denke, darauf kann man getrost verzichten.
Über das menschliche Miteinander, auf das US-Autoren so viel Wert legen, verzichtet Reah weitgehend. Sie konzentriert sich auf Steve McCarthy und seine Reaktion auf das mysteriöse Geschehen und auf die Begegnung mit der rätselhaften Suzanne Milner.
Danuta Reah versteht es, mit hoher Sachkenntnis sowohl menschliche Figuren glaubwürdig zu gestalten, als auch ein spannendes Geschehen zu inszenieren, das eine gesellschaftlich relevante Aussage beinhaltet. Das Buch ist gut zu lesen, am Schluss kann man es nicht aus der Hand legen.
Danuta Reah, Blanvalet
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