Der Fallensteller
- Limes
- Erschienen: Januar 2007
- 8
- München: Limes, 2007, Seiten: 384, Übersetzt: Fred Kinzel
- New York: Hyperion, 2005, Titel: 'Search Angel', Seiten: 316, Originalsprache
- München: Blanvalet, 2009, Seiten: 384
Adoptionsmütter im Visier eines Wahnsinnigen
Mark Nykanen arbeitete viele Jahre lang und äußerst erfolgreich als Enthüllungsjournalist. Anzunehmen ist, dass er dabei häufig genug mit dem Grauen brutaler Verbrechen und deren Opfer zu tun hatte. Beste Voraussetzungen also, um - gewürzt mit einer deftigen Prise blühender Phantasie - Kriminalschriftsteller werden zu können.
Das Erfolgsrezept ging auf. Mit seinem Psychothriller "Totenstarre" gelang Nykanen der internationale, wenn auch sehr kontrovers diskutierte Durchbruch.
Mark Nykanen kommt uns nicht als sensibler Schöngeist, sondern als Autor brutaler Thriller der härteren Gangart.
Mit "Der Fallensteller" legt uns der Limes Verlag nun seine zweite Kostprobe vor.
Auch diese wird die vielschichtige Krimigemeinde vermutlich wieder in Aufruhr versetzen und zwischen Jubel und Ablehnung hin und her reißen.
Eingefleischte Whodonit-Fans der alten englischen Schule sollten tunlichst einen großen Bogen um Nykanens Thriller machen: Herz erwärmende Fünf-Uhr-Tees, platziert auf filigranen Westminster-Beistelltischchen mit Häkeldeckchen und genippt auf einer plüschigen Ottomane sind seine Atmosphäre nicht. Bei ihm geht es eiskalt und glutheiß zu, beides als Pole des menschlich Unerträglichen.
Gewidmet ist das Buch seltsamerweise seiner Großmutter Lillian Coyne. Aber auch diese sollte den Krimi ihres Enkels nicht unbedingt als Gute-Nacht-Lektüre einsetzen sondern lieber bei Tageslicht lesen.
Der Plot von Marc Nykanens "Fallensteller" ist ein sehr interessanter und zugleich spannender.
Es geht um die vielschichtigen. psychologisch sehr sensiblen und unterschiedlichen Befindlichkeiten bei Kleinkindadoptionen:
Was veranlasst junge Mütter dazu, sich von ihren Neugeborenen zu trennen und diese unbekannten Adoptiveltern zu überantworten?
Ist Adoption aus Sicht der Mütter wirklich ein Verzicht oder aus der Perspektive der betroffenen Kinder ein ewiges Gefühl des "Im-Stich-gelassen-worden-seins"?
Inwieweit kann die Psyche aller Betroffenen bei diesem staatlich sanktionierten Kinderhandel einer Dauerschaden erleiden?
Was passiert mit den Adoptivkindern, wenn sie irgendwann im späteren Leben die Frage nach ihren genetischen Eltern stellen?
Und ist die erste Kontaktaufnahme nach so vielen Jahren der Trennung mehr ein Glücksgefühl für beide Parteien oder entpuppt sie sich als eine vorprogrammierte Enttäuschung von falschen, idealisierten Traumvorstellungen?
Susanne, der Engel der Suchenden
Susan Trayle ist der Samariter der Familienzusammenführungen. Mittlerweile zum "Engel der Suchenden" geadelt bemüht sie sich seit Jahren erfolgreich, auf Wunsch den Kontakt zwischen Adoptivkindern und deren leiblichen Müttern wieder herzustellen.
Das ist aber leichter gesagt als getan.
Erschwert wird diese Puzzlearbeit in jenen Bundesstaaten, wo die geschlossene, sprich anonyme Adoption zum Gesetz erhoben wurde, wo die Archive dicht bleiben, wo der sie "Engel der Suchenden" ebenso wie die leiblichen Mütter und zur Adoption frei gegebenen Kinder auf eine Mauer des Schweigens stoßen.
Zum Glück hat Susanne mit ihrer treuen Mitarbeiterin Ami eine zuverlässige Mitstreiterin, die selbst bei riskanten Manövern vor drohender Gefahr nicht zurückschreckt. Diese sympathische und mutige, knabenhaft anmutende junge Frau ist übrigens (neben der Beschreibung einer resoluten afroamerikanischen Ermittlerin auf S. 204ff.) die einzige Hauptakteurin, der Nykanen eindrucksvoll ein Profi. einen Charakter verleiht. Alle anderen Akteure bleiben relativ graue Mäuse, passend zur Anonymität der geschlossenen Adoption.
Auf Fachkongressen ist Susan Trayle natürlich ein gern gesehener Gast. Hier engagiert sie sich immer wieder leidenschaftlich für eine generelle Durchsetzung der offenen Adoption: gläsern für alle Betroffenen, welche auf der Suche sind nach ihren Vorfahren bzw. nach ihren Nachkommen.
"Wer bin ich, wo komme ich her, habe ich eine Geschichte?"
Susan Trayle selbst ist ein Prototyp der Ausgesetzten, eine "Sklavin ihrer Erinnerung."
Im Januar 1958 wurde sie als Säugling auf den Stufen einer Feuerwache in L.A. abgelegt.
Mit 14 Jahren wurde sie vergewaltigt und selbst schwanger.
Unter dem Druck der Alternative, sie könne ihr Kind behalten und in Schande großziehen oder es aufgeben und ihrem Sohn und sich selbst ein gutes Leben ermöglichen, wurde auch sie wie viele andere minderjährige Mütter per Unterschrift zur geschlossenen Adoption gezwungen.
Seitdem bemüht sie sich vergeblich um Kontakt zu ihrem Sohn, seitdem kämpft sie für viele andere Frauen mit ähnlicher Vergangenheit.
Es ist ein zähflüssiges Ringen um Informationen über den Verbleib der leiblichen Säuglinge, die in Adoptivfamilien groß gezogen worden sind.
Trotz Schweigepflicht ist es Susan im Laufe der Jahre immer besser gelungen, in endloser Kleinarbeit in staubigen Archiven Stück für Stück wichtige Stammbauminformationen zu sammeln, um Lebensläufe rekonstruieren zu können.
Auf einem ihrer Kongresse präsentiert Susan dann sichtlich stolz und unter dem tosenden Beifall vieler Gleichgesinnter ihre mühsam erarbeitete Daten-CD.
Diese CD ist der Schlüssel, der Türen öffnen wird für weitere Kontakterfolge von Müttern, ihre verschollenen Adoptivkinder nach langer Zeit der Unwissenheit wieder sehen zu können.
Ein folgenschwerer Fehler, der sie aus ihrer positiven Euphorie an die Grenzen des Abgrunds treiben wird.
"Der Sucher" wird fündig
Genau diese hoch brisanten Daten sind nämlich seit Jahren das einzig lebenswerte Objekt der Begierde für einen rachsüchtigen Wahnsinnigen, der sich als Teilnehmer des Kongresses eingeschlichen hat. Er verfolgt Susans Aktivitäten schon seit langer Zeit sehr aufmerksam.
"Der Sucher" verschafft sich bei der Ahnungslosen Zutritt zum Hotelzimmer, schändet sie im bewusstlosen Zustand, um sich anschließend als Krönung der internen Daten-CD zu bemächtigen. Endlich ist er im Besitz der Informationen, die ihm und seinem weiteren Lebensplan völlig neue, ungeahnte Möglichkeiten eröffnen!
Als er unmittelbar nach seiner Schandtat Kontakt zu Susan Trayle aufnimmt, warnt er diese eindringlich, nicht die Polizei einzuschalten, denn er wüsste den Aufenthaltsort ihres leiblichen Adoptivsohnes. Wenn sie sich nicht an diese Vereinbarung halten würde, wäre ihr gesuchter Sohn ein toter Mann.
Erpressung auf psychopathisch.
"Der Sucher" hat das Zepter des weiteren Dramas fest in der Hand, verfolgt offenbar aus unmittelbarer Nähe peinlich genau jeden Schritt ihrer weiteren Aktivitäten.
Im Laufe der Story stellt sich heraus, dass der Wahnsinnige selbst Adoptivkind war und seine Kindheit durch tägliche Schikanen und fehlende Zuneigung zur Hölle wurde. Er gehörte zu denen, "die zwar ein Obdach, aber nicht ihr wahres zu Hause" gefunden hatten.
Die Erinnerungen daran mutieren in eine allgemeine Wut auf Adoptivmütter und treiben ihn dazu, sich bei denen als ihr Sohn vorzustellen und nach Erschleichen des Vertrauens diese dann aus Rache bestialisch zu ermorden.
Die eingesetzten Folterwerkzeuge als zusätzliche Verhöhnung seiner Opfer könnten makaberer nicht sein: Dampfbügeleisen, Nähnadel, Besenstiel: "in Waffen verwandelte Haushaltsgegenstände, Symbole einer traditionellen Mutterrolle".
Und dazu Paul Simons Melodie "Mother and Child Reunion", das er den Opfern der Massaker bis zur Unerträglichkeit stundenlang ins Ohr summt.
Interessanter Stoff, äußerst brutal erzählt
Zweifelsohne wird "Der Fallensteller" getragen von einer guten Idee, nämlich den Befindlichkeiten der betroffenen Personen bei geschlossener Säuglingsadoption.
Nykanen selbst führt in seinem Thriller einige statistische Fakten auf, die den Leser bestürzen, vorausgesetzt, sie sind von Autor korrekt recherchiert (z.B. die Behauptung, dass Adoptivkinder 2-3 mal häufiger als die restliche Bevölkerung andere Kinder entführen und töten, mit größerer Wahrscheinlichkeit zu Serienmördern werden u. s. w.).
Der interessante Plot und die zügig voran getriebene Handlung machen den Thriller "Der Fallensteller" zweifelsfrei zu einem Pageturner.
Wie schon in "Totenstarre" sind die Kapitel im ständigen Wechsel aus Opfer- und Tätersicht geschrieben, ein Stilmittel, das durchaus nicht hinderlich ist.
Die Vorgehensweise des wahnsinnigen "Suchers" schockiert, obwohl nicht jede Bestialität bis ins kleinste Detail ausgewalzt wird. Nykanen schafft es aber, auch zwischen den Zeilen das Grauen in den Köpfen der Leser sprießen zu lassen, die über einschlägige Thriller-Bucherfahrungen schon hart gestählt wurden.
Mitunter konstruiert der Autor dann plötzlich und unpassend Passagen im schwülstigen Hollywood-Pathos, deren Gefühlsduselei theatralisch aufgepfropft wirkt.
An anderen Stellen aber überrascht Nykanen mit schönen Vergleichen und stimmigen Redewendungen (z.B.:
"Entfernung steigert nicht nur die Vorfreude, sondern verwischt auch die Spur", oder: "..Der besonders starke Schauder, der aus der Sinnlichkeit geschlechtlicher Unklarheit entsteht", oder: "Licht wiegt die Leute in einem falschen Gefühl von Sicherheit", oder: "Pistolen..., die klein kalibrierte Vettern des Verbrechens...", der: "Schmerz ist das Ventil, das die Widerstandskraft des Körpers am schnellsten entweichen lässt.").
Finalkampf um Überleben und Tod
Der Thriller endet in einem blutrünstigen Verstümmelungsfinale, bei dem sich der "Engel der Suchenden" zum rasenden Racheengel entwickelt.
Hier wäre weniger sicherlich mehr gewesen, aber Kunst (und der Kriminalroman gehört dazu, wie B.B. schon fachmännisch behauptete!) lebt bekannter weise nun einmal von der Übersteigerung.
Dieser Fakt entschuldigt auch den reichlich konstruierten (aber dennoch weiterhin spannenden!) Handlungsverlauf auf den letzten 100 Seiten, wo sich viele Zufälle in flotter Form nahtlos die Hände reichen.
Dass in der jetzigen Hochblüte von blutgierigen, sensationslüsternen und den Leser verwirrenden, ja abstoßenden Krimis jeder der Autoren dieses Genres perverse Neuerungen einfallen lassen muss um ins Gespräch zu kommen, ist aus Sicht der Schriftsteller nachvollziehbar. Aber letztendlich ist die Kauflust der Leser das entscheidende Kriterium für den kommerziellen Erfolg und die Platzierung in Bestsellerlisten.
Und noch etwas: Wenn solche Bücher dann, in der Printabteilung eines Supermarktes deutlich sichtbar, von ahnungslosen Verkäuferinnen auch an Minderjährige kommentarlos über den Ladentisch wandern, verursacht diese Vorstellung schon ein mulmiges Gefühl. Das könnte möglicherweise eine ebenso schädliche Wirkung haben wie der Verkauf von Zigaretten und Alkohol. Für letztere gibt es jedoch mittlerweile und bekannter weise eindeutige Jugendschutzregelungen.
Mark Nykanen, Limes
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