Totem
- Heyne
- Erschienen: Januar 1985
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- München: Heyne, 1985, Seiten: 253, Übersetzt: Wolfgang Lotz
- New York: M. Evans, 1979, Titel: 'The totem', Seiten: 276, Originalsprache
Medizin-Thriller mit derben Schauerelementen
In einem Provinznest des US-Staats Wyoming bringt eine Art Tollwut Tier und Mensch dazu aufeinander loszugehen. Die Ordnungsmacht zeigt sich überfordert, so dass sich die Krankheit ausbreiten und brave Bürger nach und nach in zombieähnliche Kannibalen verwandeln kann, die schließlich zum Großangriff auf die wenigen Überlebenden ansetzen ... - Trotz des sehr nach Horror klingenden Plots ist "Totem” tatsächlich ein früher Vertreter der heute so beliebten Superseuchen-Thriller. Noch vor AIDS und Ebola weiß der Verfasser die Furcht vor nicht zu kontrollierenden Epidemien zu schüren und einen actionreichen, das "wissenschaftliche” Element zugunsten des "menschlichen” Aspekts angenehm dämpfenden Reißer vorzulegen: Der "Normalmensch” in der Krise steht im Mittelpunkt des lesenswerten Geschehens.
Kleine Stadt mit Skeletten im Schrank
Potter's Field ist eine kleine Gemeinde irgendwo im US-Staat Wyoming. Farmer stellen hier die Mehrheit der Bürgerschaft. Das Leben ist hart und schlicht, die Verbrechensrate niedrig. Das gefällt vor allem dem Polizeichef Nathan Slaughter. Nachdem er, der Star der Detroiter Mordkommission, versehentlich zwei minderjährige Diebe niederschoss, ist sein Nervenkostüm angegriffen. In der Provinz möchte er wieder zu sich finden.
Leider hat er sich keinen idealen Ort für den Neuanfang ausgesucht. Potter's Field war vor sechs Jahren Zentrum einer bizarren Tragödie. Der Sektenguru Quiller hatte sich mit 200 Hippie-Gläubigen in der "unverdorbenen" Wildnis ein neues Utopia schaffen wollen. Im strengen Winter von Wyoming hatte der Traum im Desaster geendet; zu Dutzenden waren die Unglücklichen erfroren. Der Journalist Gordon Dunlap hatte damals einen bemerkenswerten Bericht über diese Ereignisse verfasst. Das Grauen hatte ihn niemals losgelassen. Zum Säufer ist er geworden, der jetzt ausgerechnet in Potter's Field sein Leben wieder in den Griff zu bekommen versucht.
Tollwütige Mörder, Zombies & Kannibalen
Dort sucht eine Kette ungewöhnlicher Gewalttaten die Bevölkerung heim. In mondhellen Nächten geht der Schrecken um. Tiere spielen verrückt, attackieren entsetzte Menschen, töten und sterben unter erschreckenden Umständen, um kurze Zeit später erneut zu einem zombieähnlichen "Leben” zu erwachen - und nach Menschenfleisch zu gieren! Kurz darauf zeigen die ersten Menschen ähnliche Symptome. Slaughter und seine Leute können der Flut schauerlicher Alarmmeldungen nicht mehr Herr werden. Die Seuche breitet sich aus, derweil der mächtige Bürgermeister von Potter's Field nur seinen Einfluss zu retten gedenkt und Slaughters Meldungen einer unbekannten Seuche ignoriert.
Einsam versuchen der angeschlagene Polizist, der ihm zur Seite stehende Journalist, einige unerfahrene Beamte und Slaughters Lebensgefährtin Mabel dem Grauen die Stirn zu bieten. Sie ahnen nicht, dass die eigentliche Quelle des Übels dort, wo einst Quiller sein Unwesen trieb, längst nicht ausgetrocknet ist, sondern nur auf den Vollmond wartet, um den tollwütigen Menschenfressern von Potter's Field gespenstische Verstärkung zuzuleiten ...
Mutter Natur treibt seltsame Scherze
Kaum zu glauben, aber "Totem” ist Horror ohne "Übernatürlichkeiten”. Es gibt keinen mordlustigen Besuch aus dem Jenseits. Das Grauen ist vor allem literarisches Stilelement. Stattdessen haben wir es hier mit einem frühen Vertreter des Wissenschafts- oder Medizinthrillers zu tun, dessen Stars wie Michael Crichton, Robin Cook oder Ken McClure heute eine recht geräumige Nische im Genre des Unterhaltungsromans besetzen.
1979 schrieb David Morrell seine Geschichte. Das war noch vor AIDS und Ebola, die man wohl als die "Leitseuchen” der Neuzeit bezeichnen kann. Diese Tatsache gilt es während der Lektüre im Hinterkopf zu behalten: Morrell betritt Neuland. Sein scheinbar simpel gestrickter Reißer bedient sich Situationen und Personen, die inzwischen zum Klischee verkommen sind. Damals waren sie jedoch "frisch”.
Rasant und ökonomisch zugleich lässt der Verfasser das Geschehen ablaufen. In mehr als 100 Kapiteln von oft nur wenigen Zeilen Länge springt die Handlung in schnellen, "filmischen" Schnitten von einer Szene zur nächsten. Oft kommt es zu Sprüngen, die Handlung verläuft nicht streng chronologisch; dem Leser erschließt sich die Story erst nach und nach - ein raffinierter Trick Morrells, der auf diese Weise die Unübersichtlichkeit der Lage unterstreicht, in der sich die Bürger von Potter's Field befinden.
Fest behält der Verfasser die Fäden in der Hand. Dramaturgisch bemerkenswert ist bereits das Einstiegskapitel: Polizeichef Slaughter tritt einem betrunkenen und bewaffneten Mann gegenüber, der auf seinen Bruder wartet, den er umbringen will. Hier knistert es vor Spannung, sparsam setzt Morrell die Worte. Ohne großartige Rückblenden, sondern auf dem unmittelbaren Geschehen heraus haben wir Slaughter kennen gelernt. Solche Kabinettstückchen gelingen Morrell mehr als einmal.
Bemerkenswert ist weiterhin, wie uns der Autor ständig auf falsche Fährten lockt. Wer steckt denn nur hinter dem Grauen von Potter's Field? Eine Sekte von Teufelsanbetern? Dämonen aus der Hölle? Indianische Rachegeister? Ein Kollektivwesen aus dem Weltall? Die Wahrheit liegt irgendwo da draußen in der Bergwelt von Wyoming. Wie wir es dank "Akte X" & Co. inzwischen gelernt haben, ist sie letztlich eine völlig andere.
Helden voller Furcht & Tadel
"Totem” ist ein Roman von David Morrell. Diese Tatsache ist für die Beurteilung überaus wichtig. Halt, es fehlt noch eine Information: Morrell ist der Schöpfer des John Rambo, dem Sylvester Stallone zwischen 1982 und 1987 so bildfüllend Gestalt verlieh. Die Romanvorlage stammt aus dem Jahre 1972. "First Blood” war Morrells Debüt - die Geschichte eines auf Töten "programmierten" Vietnamveteranen, der ausgemustert, mit seinen Kriegstraumas allein gelassen und von seinen verständnislosen Mitmenschen gereizt wird, bis er explodiert.
Auch "Totem” stellt Menschen mit einem Seelenknacks ins Zentrum des Geschehens. Polizeichef Slaughter hat im Dienst einst versehentlich zwei Jugendliche erschossen. Darüber kommt er nicht hinweg, was ihn schon in friedlichen Zeiten als Ordnungshüter eigentlich untauglich werden lässt. Mindestens ebenso aus der Bahn geworfen ist Gordon Dunlap. Der haltlose Alkoholiker klammert sich an den Gedanken, er könne in Potter's Field die Fäden seines zerstörten Lebens wieder aufnehmen. Stattdessen bildet er eine zusätzliche Gefahr, ist in der Krise, d. h. wenn es darauf ankommt, unzuverlässig und wird von seinen Albträumen gesteuert. Zudem ist er skrupellos; Fakten, die seinen Freund Slaughter als Polizisten schlecht aussehen lassen, gedenkt er für sein Comeback als Journalist auszunutzen.
Dem Polizeiarzt versagen unter Belastung die Nerven, Slaughters Kollegen vergessen ihre Ausbildung, sobald es um mehr geht als die Festnahme eines Trunkenbolds. Der Bürgermeister ist ein Opportunist. Die Bürger sind ängstlich und lassen sich leicht manipulieren. Niemand kann sich auf sein Gegenüber verlassen. So kann der tollwütige Schrecken überhaupt erst über Potter's Field kommen. Als sich die Menschen endlich zusammentun, kann dem Spuk bald ein Ende gemacht werden. Was will man mehr verlangen von einem kleinen, angestaubten (welche Schreckenssituationen sich einst ohne Handy konstruieren ließen ...), gar nicht feinen, aber lesenwerten Thriller!
"Director's Cut" eines Frühwerks
"The Totem" erschien 1979 sehr zum Ärger des Verfassers nur in einer gekürzten Fassung, welche nach dem Willen des Verlags die Actionszenen in den Vordergrund stellte. Morrell lag sein Roman so am Herzen, dass er die ungekürzte und überarbeitete Fassung unter dem Titel "The Totem: Complete and Unaltered" 1994 noch einmal herausbrachte. Diese Version ist um ein Drittel länger als das ursprüngliche Werk, von dem es außerdem inhaltlich stark abweicht.
David Morrell, Heyne
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