Die seltsame Idee der Mrs. Scott
- Goldmann
- Erschienen: Januar 1960
- 1
Originalausgabe erschienen unter dem Titel „Devil in the Maze“
- London : Collins/The Crime Club 1961
- München : Goldmann Verlag 1960 [Goldmanns Kriminal-Romane K 248]. Übersetzung: Tony Westermayr. 187 Seiten. [keine ISBN] -
- München : Goldmann Verlag 1962 [Goldmanns Taschen-Krimi 1122]. Cover: Eduard Böhm. 187 Seiten. [keine ISBN]
Tödliche Begegnung im Irrgarten
Matilda Scott meint ihr nahes Lebensende zu spüren. Zuvor möchte sie den spärlichen Nachkommen der einst bedeutenden Familie auf den Zahn fühlen. Da Matilda steinreich ist, lockt die Hoffnung auf ein Erbe die fünf Angehörigen in das verfallende Haus, das die alte Frau in Richmond nahe London mit ihrer altjüngferlichen Tochter bewohnt.
Dort sollen sich die Nachfahren zur Belustigung der Hausherrin in einem albernen Wettbewerb messen. Zum Anwesen gehört ein Irrgarten, Wer in kürzester Zeit bis zu seinem Mittelpunkt vordringen und das Labyrinth wieder verlassen kann, soll den Löwenanteil des beträchtlichen Erbes bekommen.
Man macht gute Miene zum blöden Spiel, das damit endet, dass Major Claude Pilbeam, Matildas Neffe, spurlos im bzw. aus dem Irrgarten verschwindet. Die Suche dort bleibt erfolglos, doch später findet man Pilbeam in einem der vielen leeren Zimmer des Hauses: Er hängt an einem Strick, den er sich nicht selbst um den Hals gelegt hat.
Die ratlose Polizei gibt den Fall gern an Scotland Yard weiter. Am Tatort erscheinen Chefinspektor Bill „Old Iron“ Cromwell und sein Assistent Johnny Lister. Wie üblich nimmt Cromwell wenig Rücksicht auf die gesellschaftliche Stellung der ‚Gastgeberin‘. Zu lösen gilt es das Rätsel, wie Pilbeam aus dem lückenlos wuchernden Irrgarten verschwinden konnte. Treibt dort tatsächlich ein „Teufel“ sein Unwesen, wie Matildas Tochter Cornelia verbreitet? Cromwell glaubt nicht an Gespenster, sondern nimmt die versammelte Familie unter die Lupe, deren Angehörige einiges zu verbergen haben …
Abseits des ‚modernen‘ Verbrechens
Das handwerkliche Geschick eines Schriftstellers, der eher auf Masse als auf Klasse setzt, wird durch die Durchschnittsqualität seines titelreichen Werkes belegt. Folgt man dieser Definition, muss man Edwy Searles Brooks (1889-1965) bewundern. Wie viele Wörter er in einem halben Jahrhundert zu Papier gebracht hat, konnte nie in vollem Umfang ermittelt werden. Selbst wenn man sich auf die unter dem Pseudonym „Victor Gunn“ veröffentlichten Romane um Bill Cromwell und Johnny Lister beschränkt, zählt man 43 Titel!
„Die seltsame Idee der Mrs. Scott“ - im Original deutlich treffender „The Devil in the Maze“ - fällt als Band 35 in Gunns Spätwerk. Ist eine Serie so weit fortgeschritten, hat sie normalerweise ihren Höhepunkt lange hinter sich gelassen. Das (langsam schwindende) Interesse eines trotzdem weiterhin lukrativen Stammpublikums hält solche Reihen am Leben, denn der Fan lässt nur ungern von Liebgewonnenen ab bzw. ist bereit, selbst Minderwertiges zu schlucken, solange bewährte Helden weiterhin in neue Abenteuer verwickelt werden.
„Neu“ ist dabei ein Euphemismus, was auch und gerade dieser Roman belegt. 1960 arbeitete das Verbrechen so nah am Puls der Zeit wie immer. Was sich auf dem Anwesen der Matilda Scott ereignet, hätten moderne Kriminelle zu Recht laut belacht. Doch Gunn macht aus der scheinbaren Not eine Tugend. Er legt großen Wert auf die Erschaffung einer Art Nische, in der die Zeit scheinbar stehengeblieben ist, und schafft es, dies (einigermaßen) plausibel zu begründen, indem er Matilde als Frau schildert, deren Leben nach dem Tod des Gatten faktisch endete. Sie schlüpfte in die Rolle der ewigen Witwe und verkroch sich in ihrem Haus, das sie quasi planvoll verfallen und den Park verwildern ließ.
Die dummen Streiche der Reichen
Das erinnert an jene Geschichten, die in den deutschen Edgar-Wallace-Filmen der 1960er Jahre erzählt wurden. Auch hier blieb die Logik ausgesperrt; der angenehme Grusel-Effekt hebelte ihn aus. Absurd komplizierte Morde, umständliche Todesfallen und groteske Tatmotive standen im Vordergrund, garniert wurde das Ganze mit kruden Figuren. Man genoss solche Trivial-Nostalgie, die man wie eine warme Decke um sich wickeln konnte. Matilde Scott selbst ist eine Erscheinung aus vergangener Zeit; ex- und egozentrisch, dominant und in der Verfilmung die typische Rolle für eine prominente, schon ältere bzw. angewelkte Schauspielerin.
In diese Kerbe haut Victor Gunn, der hierzulande den genannten Wallace als auflagenstarkes Zugpferd des Goldmann-Verlags ersetzte und letztlich sogar überholte. Wer Gunns Romane heute liest, kann sich diesen Erfolg einerseits schwer erklären, während jene, die sich nach besagter Decke sehnen, weiterhin angesprochen werden. Was sich als inhaltliche und formale Stereotypie geißeln lässt, befriedigt unter diesen Umständen eine Erwartungshaltung, die Krimi-Realismus ausdrücklich ausschließt.
Insofern ist die wahrlich seltsame Idee der Mrs. Scott der beinahe obligatorische Auslöser für ein Garn, das Krimi-Spannung und Grusel-Stimmung miteinander verbindet. Da ist das alte, düstere Haus im hoch ummauerten, verwilderten Garten. Selbstverständlich regnet es ständig, und der Nebel wallt zuverlässig. Es gibt nur wenig Licht, aber einen Irrgarten, der selbstverständlich zum Ort eines Verbrechens wird, das der Verfasser nur dank diverser Tricks ungelöst über die volle Distanz bringt.
Irgendetwas geht immer vor
Als Profi wusste Gunn um die Fadenscheinigkeit des Plots, den er deshalb routiniert um zahlreiche Verwicklungen ergänzt, die mit dem eigentlichen ‚Fall‘ nichts zu tun haben. Weil er erfreulich geschickt vorgeht, wird dies lange nicht deutlich und sorgt für eine Verstärkung jener Verwirrung, die elementarer Teil eines „klassischen“ Krimis ist. Den Versuch der leserseitigen Selbstermittlung kann man sich sparen. Letztlich ist es Gunn, der vor der Auflösung die Spreu vom Info-Weizen trennen muss, damit sich das eigentliche Verbrechen herauskristallisiert.
Man nimmt es ihm nicht übel, denn Gunn zeigt zwar keine herausragenden Qualitäten, aber auch keine Schwächen. „Die seltsame Idee …“ liest sich - zumal als 35. Band der Cromwell/Lister-Serie, woran noch einmal erinnert sei - durchweg spannend. Die bizarren Ereignisse fügen sich zu einer bizarren Story, in der die bizarren Figuren ihre bizarren Rollen spielen. Ganz oben steht natürlich Bill „Old Iron“ Cromwell, der sich nur bedingt wie ein Polizeibeamter aufführt, sondern ermittelt, wie es ihm gefällt. Dass er selbst seinen ‚Assistenten‘ - der eher sein Chauffeur und Leibwächter ist - ebenso penetrant im Dunkeln lässt wie uns Leser, funktioniert nur in Gunns Mikrokosmos.
Gunn lässt Cromwell nur agieren. Selbstreflexive Momente oder Rückblenden in die Vergangenheit des Chefinspektors bleiben aus: Dies erleichterte dem Verfasser die Arbeit, weil er die Biografie seines Helden nicht kennen und berücksichtigen musste, während es die Leser nicht stört, weil ein Cromwell/Lister-Krimi auf einer anderen Ebene funktioniert. Voran, voran, heißt die Devise, und wiederum muss man Gunn bewundern, weil er noch die wüsteste Episode irgendwie in seine Story integrieren kann - das ist das ‚Geheimnis‘, wie man so lange im Geschäft bleibt!
Fazit:
Ihr 35. Abenteuer verwickelt Chefinspektor Cromwell und seinen Assistenten Lister in ein reihentypisch aus der Zeit gefallenes, nostalgisch-spannendes Krimi-Abenteuer mit Grusel-Ambiente. Klassisches britisches Krimi-Handwerk wird trivial abgespeckt und mit Action-Einlagen angereichert, bleibt aber trotzdem gewahrt. Das Ergebnis sorgt für ein angenehm angestaubtes Lektürevergnügen.
Victor Gunn, Goldmann
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