Erschlagen bei den Eiben
- Desch
- Erschienen: Januar 1958
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- London: Faber & Faber, 1954, Titel: 'That Yew Tree´s Shade', Seiten: 221, Originalsprache
- München; Wien; Basel: Desch, 1958, Titel: 'Das Geständnis der Mary Rose', Seiten: 223, Übersetzt: Georg & Rosmarie Kahn-Ackermann
- München: Goldmann, 1978, Seiten: 158, Übersetzt: Bernhard Willms
Ruhiges Dorf mit rührigen Kriminellen
Normalerweise verläuft das Leben ruhig auf dem Yew Hill bei Yewburg, einer kleinen Landgemeinde in der englischen Grafschaft Markshire; dies war schließlich der Grund, wieso Anwalt Francis Pettigrew und Gattin Elleanor ihren Altersruhesitz hierher bzw. in das Haus einer verstorbenen Tante verlegt haben.
Für Aufregung sorgt in der Regel Lady Furlong, selbsternannte Anführerin der vornehmen Gesellschaft von Yewburg, die furchtbar gern ‚Skandale' aufrührt. Marianne Ransome, deren gemietetes Haus ebenfalls auf dem Yew Hill steht, ist ihr beliebtes Ziel, denn die lebenslustige und alleinstehende Frau empfängt dort Männer, mit denen sie nicht verheiratet ist. Aktuell ist es ausgerechnet Humphrey Pink, ein ehemaliger Parlamentsangehöriger, der seine Stellung ausgenutzt hatte, um viel Geld zu veruntreuen. Dafür hat er sieben Jahre im Gefängnis gesessen. Nun ist er wieder frei und erneut in undurchsichtige Geschäfte verwickelt.
Jesse Todman beobachtet es voller Groll. Er gehört zu jenen, die ihr Vermögen Pink anvertraut und verloren haben. Auch die stille, zurückgezogen lebende Mary Rose scheint den Betrüger zu kennen; sie wird im ernsten Gespräch mit ihm gesehen. Kurze Zeit später liegt Mary mit eingeschlagenem Schädel bei der alten Druiden-Eibe am Yew Hill. Der Tat verdächtig sind Todman, ihr Vermieter, der sie unbedingt aus dem Haus ekeln wollte, Marianne Ransome und natürlich Pink. Sie alle waren zur fraglichen Zeit auf dem Yew Hill. Doch Detective Superintendent Trimble und Sergeant Browne, die mit dem Fall betraut werden, stehen vor einem Problem: Drei Wanderwege kreuzen sich bei besagter Eibe. Jede/r Verdächtige hätte auf diese Weise dorthin gelangen können. Zeit für den Auftritt eines eifrigen Detektivs, denkt sich Francis Pettigrew, der sich daheim langweilt und umgehend mit eigenen Ermittlungen beginnt ...
Der Fluch der Idylle: ein Dauerbrenner
Zu seinem Glück ist Trimble bekannt, dass Pettigrew der Polizei schon mehrfach mit kriminalistischen bzw. juristischen Hinweisen helfen konnte. Deshalb duldet er die Einmischung nicht nur, sondern nutzt auch deren Vorteile: Zwar ist auch Pettigrew ein ‚Zugezogener', aber als ehemaliger Anwalt in recht hoher Stellung und mit einer geselligen Ehefrau gesegnet, hat er Zugang zur Dorfgemeinschaft, die sich dem Ortsfremden ansonsten wie eine Wagenburg präsentiert: nach außen fest geschlossen und innen mit der Verteidigung des Dorffriedens beschäftigt, was bei näherer Betrachtung eine aussichtlose Aufgabe ist.
Die Aufdeckung angeblicher Idyllen ist eine Domäne des klassischen Kriminalromans, der immer auch gesellschaftliche Normen berücksichtigt. Egal ob adeliges Landhaus, Prominentenvilla oder eben das Dorf: Der schöne Schein ist meist nur sorgfältig gehütete Fassade, hinter der hässliche Realitäten für kleine aber heiße Höllen sorgen. Ohnehin ist der Mensch ein Feind der Gemütlichkeit, wie Pettigrew schnell lernt:
„Er hatte sich Yewbury als einen Hafen ruhiger Besinnlichkeit vorgestellt. Stattdessen glich es einem Strudel von Aktivitäten, demgegenüber ein Bienenkorb wie ein ausgesprochener Ruhepol wirkte." (S. 10)
Cyril Hare, der nicht nur wunderbar verzwickte Kriminalgeschichten ersann, sondern sie darüber hinaus ebenso elegant wie witzig zu Papier brachte, ist für die Schilderung eines solchen trügerischen und tückischen Alltags-Pfuhls ein Idealkandidat. Pettigrew wird sein Auge und seine Stimme. Er führt ins Dorfleben ein und vermittelt langsam aber unterhaltsam ein Bild, aus dem sich diverse Hauptfiguren herauskristallisieren. Gleichzeitig streut uns der Autor Sand in die Augen: Obwohl wir so viel über Opfer und (potenzielle) Täter zu wissen scheinen, haben wir doch keine Ahnung, warum und vor allem wie die Tat begangen wurde.
Mord als unterhaltsames Planspiel
Dabei scheint der Yew Hill aufgrund seiner "offenen" Topografie denkbar ungeeignet als Ort eines "unmöglichen" Verbrechens zu sein. Aber die meisten Bereiche seiner Hänge liegen außer Sicht oder sind dicht bewachsen. Deshalb ist es kein Wunder, dass die Aufenthaltsorte der drei Verdächtigen zur Tatzeit nicht rekonstruiert werden können. Dass verschiedene Zeugen sie am Hügel gesehen haben, ist eher kontraproduktiv. Hare nutzt gern und humorvoll die Gelegenheit, die Wankelmütigkeit der Wahrnehmung ins Geschehen zu integrieren: Die Zeugen widersprechen einander im Brustton der jeweiligen Überzeugung und tragen zur Verwirrung bei.
Wenn diese ihren Höhepunkt erreicht hat, beginnen Pettigrew und Trimble - geführt von ihrem geistigen Vater - mit der Auflösung des Knotens. Aus dem Wust der präsentierten Informationen, Fehlinterpretationen und Lügen werden wie unter dem Präparier-Hammer eines Fossiliensuchers die relevanten Fakten herausgelöst, gesäubert, gesichtet und sortiert, bis sie sich zu einer Kette reihen lassen, an deren Ende die Aufklärung der Mordtat sowie der Umstände steht, die zu dem Verbrechen führten.
Dieser Vorgang ist durchaus mit der Konstruktion eines Uhrwerks vergleichbar. Allerdings wirkt die Geschichte unter Hares sicherer Feder niemals mechanisch. Er widmet sich seinen Figuren ebenso intensiv wie dem Plot und lässt uns nicht vergessen, dass es Menschen sind, die für die geschilderten Ereignisse verantwortlich sind oder unter ihnen leiden.
Das Land der tausend Augen
Um die Unmittelbarkeit des Lesers zu intensivieren, bedient sich Hare eines Kniffs. Obwohl als Ermittler ein Amateur, ist Pettigrew nicht unerfahren. Als langjähriger Bediensteter der britischen Justiz kennt er die Menschen. Um die seelischen Abgründe von Yewbury überraschender zu gestalten, führt Hare deshalb den jungen Godfrey ein. Er ist nicht ein Außenstehender, der sich erst in die Dorfleben einfühlen muss, sondern auch der Sohn von Marianne Ransome und seine Mutter womöglich eine Mörderin - ein Aspekt, aus dem Hare natürlich Spannungskapital zu schlagen versteht.
Schon der Name unterstreicht seine Sonderstellung: „Godfrey" bedeutet „Gottes Schutz", vermittelt aber auch den Eindruck quasi jungfräulicher Weltfremdheit. Genau dies kennzeichnet den jungen Mann, der darüber hinaus mit einer Mutter konfrontiert wird, die dem zeitgenössischen Bild einer ehrbaren Frau überhaupt nicht entspricht. Daran ändert sich nichts; Marianne bleibt, wer sie ist, und krönt dies im Finale durch einen weiteren Akt gesellschaftlichen Ungehorsams: Der wunderbar altmodisch schreibende Hare konnte sehr modern sein. Nicht Marianne, sondern Godfrey ist letztlich das konservative Element dieser kleinen Familie.
Ein Meisterstück gelingt Hare mit der Figur der Mary Rose. Als sie noch lebt, ignoriert er sie, obwohl sie über Dritte stets handlungspräsent ist. Ihr Geheimnis ist denkbar simpel und gleichzeitig so gut verborgen, dass es wieder einmal und ausgerechnet Pettigrew ist, der es schließlich dort entdeckt, wo es nur jemand entdecken kann, der mit den Spitzfindigkeiten der englischen Justiz vertraut ist. Wie es sich für einen guten Kriminalroman gehört, ist die Auflösung ebenfalls eine Überraschung: Obwohl das gelöste Rätsel den Täter quasi mit Namen nennt, ist es doch ein anderer gewesen.
Ein Könner sorgt für Krimi-Genuss
Cyril Hare gehört zu den (beneidenswert zahlreichen) englischen Autoren, die Spannung, Tragik und Witz miteinander vereinen können. Wo heutzutage viel zu oft vierstellige Seitenzahlen darauf verschwendet werden, Schaum für Seifenopern zu schlagen, bleibt Hare stringent, ohne dabei wortkarg zu sein. Für humorvolle Abschweifungen bleibt dennoch Zeit:
„Trimble befahl, die Leiche ins Leichenhaus zu bringen, und verschaffte dadurch den unzähligen Campingfreunden, Wanderern und Familienparties, die Zeugen des langsamen Abtransports der Tragbahre wurden, einen angenehmen Höhepunkt ihrer Osterferien." (S. 80)
Dies schließt die Figurenzeichnungen ein. Im Gedächtnis bleibt u. a. Sergeant Browne, der permanent unter Magenverstimmungen leidet, weil seine Gattin ihm Kochbuchkost vorsetzt, die absolut ungenießbar ist. (Da stellt sich die Frage, ob Alfred Hitchcock sich daran erinnerte, als er 1972 „Frenzy" drehte - sein Chief Inspector Oxford hat genau dieses Problem.)
Selbstverständlich konfrontiert uns Hare mit einigen klassischen Gestalten des englischen Landhaus-Krimis. Die dumme, eingebildete und wichtigtuerische Lady ist ebenso präsent wie der treuherzige und für das Kapitalverbrechen wenig taugliche Dorfpolizist. Deutlich bissiger wird der Humor, wenn Hare Humphrey Pink zu Wort kommen lässt, den die Haft keineswegs geläutert hat und der dem armen Godfrey seine Haifisch-Sicht auf die menschliche Gesellschaft vorstellt.
Überhaupt ist die Realität näher als sonst im Rätsel-Krimi. Die Handlung spielt kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Noch sind Lebensmittelrationierungen in Kraft, und dass sich Hausbesitzer die "von oben" angeordnete Einquartierung ausgebombter Städter gefallen lassen müssen, ist sogar ein elementarer Bestandteil des Plots. Obwohl ‚Action' dieser Geschichte völlig fehlt, bietet sie vollendetes Krimi-Handwerk hart an der Grenze zur Literaturkunst. Alle Romane von Cyril Hare sind lesenswert, aber dieser gehört zu den Meisterwerken seines Verfassers!
Anmerkung:
Die Zitate wurden der ersten Übersetzung entnommen, da Georg Kahn-Ackermann wie üblich die bessere Eindeutschung gelungen ist, der das Alter zudem bekommt, weil sich selbst nebensächliche Ausdrucksfeinheiten deutlicher herausschälen.
Cyril Hare, Desch
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