Icarus
- Rütten & Loening
- Erschienen: Januar 2003
- 1
- Berlin: Rütten & Loening, 2003, Seiten: 488, Übersetzt: Uwe Anton
- Berlin: Aufbau, 2004, Seiten: 488, Übersetzt: Uwe Anton
- New York: Doubleday, 2001, Titel: 'Icarus', Seiten: 402, Originalsprache
Der Sonne zu nah
Der Kriminalroman hat seine Geschichte. Der Kriminalroman hat seine Klassiker. Er ist relativ gut definiert. Eigenschaften, die das Genre: Thriller noch nicht aufzuweisen hat, weil es noch recht jung ist und eine Abgrenzung nur sehr schwer fällt. Der inflationäre Gebrauch des Begriffes für allerlei Spannungsliteratur hat gerade in jüngster Zeit zu einer Verwirrung geführt. In der Vergangenheit hat es sicher viele Romane gegeben, die man nach heutiger Lesart als Thriller bezeichnen würde, nur damals gab es den Begriff noch nicht. Eins haben Krimi und Thriller gemein. Das sind ihre vergessenen oder nicht entdeckten Perlen, wozu "Icarus" vom Autorenteam Russell Andrews zu zählen ist. Hinter diesem Pseudonym stecken die amerikanischen Autoren Peter Gethers und David Handler, die beide auch anderwärtig und erfolgreich literarisch tätig sind. Bei ihrer Zusammenarbeit verwenden sie gerne Titel aus der griechischen Mythologie – Aphrodite, Midas, Hades und Icarus. Leider wurde den Thrillern von Russell Andrews nicht die Aufmerksamkeit zuteil, die sie verdient hätten. Schon Ihr Erstling, dem biblischen Gideon (dt: Anonymus) gewidmet, war ein hervorragender Thriller. Icarus steht dem in nichts nach.
Fliegen zu können, war der große Traum des kleinen Icarus in der griechischen Sage. Sein Vater Dädalus verwirklichte diesen Traum, indem er dem Jungen ein Fluggestell bastelte, mit dem er sich in die Lüfte erheben konnte. Ähnliche Träume hat auch der 10-jährige Jack Keller, besonders wenn er seine Mutter auf der Arbeit besucht und vom 17. Stockwerk des Bürotowers in die luftige, verführerische Weite hinausschaut. Doch seine Träume enden jäh, als er eines Abends mit ansehen muss und er es nicht zu verhindern weiß, dass ein Verrückter seine Mutter attackiert und sie aus dem Fenster stürzt. Dieses traumatische Erlebnis wird Jack sein ganzes Leben nicht los. Er leidet fortan unter Höhenangst. Den Traum vom Fliegen erfüllt er sich auf andere, sehr amerikanische Art, indem er zum Höhenflug des erfolgreichen Geschäftsmannes ansetzt. "Vom Tellerwäscher zum Millionär", dieses uramerikanische Klischee, beschreibt seinen künftigen Lebensweg. Doch Jack Keller ist ein Icarus. Der Sonne zu nahe erlebt er einen zweiten Absturz.
Dabei meinte das Leben es gut mit Jack. Seine Jugendjahre verbrachte er bei Dominick Bertolini, dem Lebensgefährten seiner Mutter, der auch sein Stiefvater hätte werden sollen. Dominick betreibt eine kleine Fleischfabrik im New Yorker Marktbezirk. Dort arbeitet Jack, wann immer ihm sein Studium Zeit lässt, und dort lernt er auch viel über die unterschiedlichen Qualitäten von Lebensmitteln, was für seinen späteren Beruf von Vorteil sein wird. Auf dem Campus lernt Jack die attraktive Caroline Hale, Tochter aus reichem Haus, kennen und verliebt sich in sie. Gefühle, die von Caroline erwidert werden. Die beiden beschließen zu heiraten. Nach der Hochzeit arbeiten sie an ihrem ersten gemeinsamen Projekt, dem eigenen Restaurant, was dank ihres unermüdlichen Arbeitseinsatzes mit Erfolg gekrönt ist. Schon bald entstehen Filialen in Chicago, London und Paris. Auch ihre Ehe verläuft harmonisch, wird nur durch die Tatsache getrübt, dass Caroline nach mehreren Fehlgeburten keine Kinder mehr gebären kann. Sie kümmern sich verstärkt um den jugendlichen Kid Demeter, der Sohn eines Arbeiters in Dominicks Fleischfabrik, dessen Entwicklung den Kellers viel Freude bereitet Alles Sonnenschein bis zu dem denkwürdigen Tag der Eröffnung einer weiteren Filiale in Charlottesville, als ein Unbekannter auf die beiden Kellers schließt.
Jack Keller, unser Icarus, lebt sein erfülltes Leben und ahnt nichts Böses, doch das Wachs an seinen Flügeln ist schon weich geworden.
Wir Leser sind Jack gegenüber im Vorteil. Uns wird einem Countdown gleich mit jeder Kapitelüberschrift eine nahende Katastrophe angekündigt und eine undefinierbare Stimme aus dem Off verstärkt ständig das Bedrohungspotenzial. Stück für Stück offenbart sich neben Jacks rechtschaffenem Leben eine Art Parallelwelt. Nichts und niemand scheint das zu sein, was er vorgibt. Nach einer langen Phase der Rekonvaleszenz nimmt Jack eigene Ermittlungen in Sachen des Attentates auf ihn und seine Frau auf. Die Polizei hatte die Suche aufgegeben. Unterstützt wird er von seinem Zielsohn, Kid Demeter, der Jack in seinem Beruf als Physiotherapeut wortwörtlich auf die Sprünge geholfen hatte, der nun aber die Gefahr eher anzuziehen scheint. In beider Umfeld geschehen immer mehr Morde. Zuerst trifft es Kids Freundinnen, deren seltsame Spitznamen wie Todesbotin oder Totengräberin auf dunkle Geheimnisse schließen lassen.
Obwohl man als Leser immer mehr Informationen zugespielt bekommt, steigt die Verwirrung stetig. Am Ende ist man total verunsichert so ob der Identität des Mörders. Das ist exzellentes Thrillerhandwerk. Neben den Hauptprotagonisten sind auch die Nebenfiguren mit viel Sorgfalt gezeichnet. Zu erwähnen wäre da als Beispiel die Polizistin Patience McCoy, die alles andere als Ruhe ausstrahlt, die aber in einer heiklen Situation ihren (schwarzen) Humor nicht verliert: "Life is a bitch, and then you die". Gut gewählt ist auch das Ambiente mit den schlüpfrigen Bars und den Hinterhaus-Kokainhöhlen, in denen sich die aufgestylten Yuppies tummeln. Das erinnert ein bisschen an Bret Easton Ellis´ American Psycho.
Autoren, die richtig gut erzählen können und ihre Geschichte im Stile des klassischen Dramas inszenieren, sind selten geworden, besonders im Thriller-Sektor. Hier und heute dominieren die Tempomacher, die sich in möglichst kurzen Kapitel von Cliffhanger zu Cliffhanger hangeln, was wohl auch den Lesegewohnheiten der heutigen Zeit entspricht. Icarus ist nichts für die Bahn oder fals Zwischenhappen, sondern für die kommenden, längeren Herbst- und Winterabende eine spannende Lektüre.
Russell Andrews, Rütten & Loening
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