Midas
- Rowohlt
- Erschienen: Januar 2006
- 7
- New York: Mysterious Press, 2005, Titel: 'Midas', Seiten: 371, Originalsprache
- Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2006, Seiten: 480, Übersetzt: Michael Windgassen
- Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2007, Seiten: 478
Mit Schaudern nach Amerika blicken
"Bashar Shabaan erstarrte. Da lief etwas schief, sehr schief. Warum läutete das Telefon? Nicht sie wollten sich bei ihm melden, sondern er wollte sie anrufen. Etwas stimmte nicht, ganz und gar nicht. Dann ging ihm plötzlich ein Licht auf. Er hatte Unrecht. Alles lief genau nach Plan - nach ihrem Plan. [...] Ob sich der Teufel von ihm schmieren ließe, würde er nicht mehr herausfinden. Schade drum. Denn er wusste ohne jeden Zweifel, dass er diesem alten Bastard jeden Augenblick gegenübertreten würde."
Die Explosion kam ebenso unerwartet wie verheerend. Von dem vornehmen, kleinen Restaurant blieb kaum etwas stehen. Doch der vermeidliche Selbstmordanschlag ereignete sich nicht im Fernen Osten oder in Israel, sondern in der amerikanischen Kleinstadt East End Harbour auf Long Island / New York. Unter den Opfern befindet sich auch Sheriff Jimmy Legett, dessen Vertreter Justin Westwood wenige Tage später die Trauerrede für seinen Chef und Freund hält. Während er in seiner freien Rede eine kleine Pause einlegt klingelt plötzlich sein Handy. Mike Haversham, der Bereitschaftsdienst schiebende Kollege, bittet Westwood, unverzüglich zu einem neuen Tatort zu kommen. Ein Privatflugzeug stürzte in unmittelbarer Nähe der verkehrsreichsten Kreuzung von East End Harbour ab.
Wie zufällig befindet sich ein Mitarbeiter der US-Behörde für Flugsicherheit, kurz FAA, unmittelbar nach dem Absturz vor Ort. Allerdings verhält sich dieser alles andere als kooperativ, nachdem er das Flugzeug inspiziert hat. Wenig später erscheint ein Rettungswagen und nimmt den Leichnam des Piloten mit, doch es kommt noch ärger: In der Maschine finden sich keinerlei Fingerabdrücke und zudem erfährt Westwood, dass keines der Krankenhäuser auf der Halbinsel einen Krankenwagen geschickt hat.
Der Anschlag auf das Restaurant fällt in die Zuständigkeit des FBI, aber bei den Feebies stößt Westwood auf eine Mauer des Schweigens. Es wirkt fast so, als würde gar nicht ermittelt. Vielmehr scheint man bereits alles zu wissen und will die Ergebnisse nur partout keinem mitteilen. Und bei dem Flugzeugabsturz? Auch hier wäre eine Präsenz des FBI eigentlich selbstverständlich, aber man gibt sich mit der Erklärung der FAA zufrieden, wonach ein Fehler des Piloten die Ursache war. Eine offensichtliche Lüge, wie Westwood schnell herausfindet.
Je tiefer Westwood bei seinen Recherchen vordringt desto öfter rennt er dabei vor verschlossene Türen bei den US-Behörden. Computerdateien wurden gelöscht, Internetseiten gesperrt und Gesprächspartner blocken ab.
Nach einem weiteren Bombenattentat demonstriert US-Präsident Anderson Stärke und kündigt ein neues Gesetz im Kampf gegen den Internationalen Terrorismus an, den sog. "Triumph Act of Freedom". Dieser stattet die Behörden mit nahezu unbeschränkten Vollmachten aus, wo hingegen bloße Verdächtige sämtliche Bürgerrechte verlieren. Während in der Folgezeit nicht nur die Umfragewerte der Regierung sondern vor allem die Rohölpreise von einem Rekordhoch zum nächsten jagen, stellt Westwood fest, dass einige sehr auffällige Spuren geradewegs in die höchsten Stellen der US-Behörden, ja sogar bis ins Weiße Haus führen. Und dies ein Jahr vor den nächsten Präsidentschaftswahlen...
Vor dem Hintergrund des verheerenden Anschlages "9/11" sowie einem der größten Wirtschaftsskandale Amerikas rund um den US-Riesen Enron hat Russell Andrews (Pseudonym!) einen Verschwörungs- und (teilweise auch) Wirtschaftsthriller gebastelt, der schlicht und einfach großartig ist. Die Story ist dabei in mehrere "Szenarios" aufgeteilt. Zunächst passieren einige Terroranschläge mit anschließender Beseitigung der Zeugen bzw. Spuren, danach folgt ein interessanter Mittelteil, in dem ausgiebig dargestellt wird, was dies zur Folge haben kann. Eine verängstigte Nation, die einem Präsidenten zujubelt, der den starken Mann markiert und aus "Gründen der nationalen Sicherheit" die elementarsten Bürgerrechte (z. B. das Recht auf einen Anwalt) abschafft, hier im Rahmen des "Triumph of Freedom Act". Es folgt ferner ein interessanter und detaillierter Einblick in die Funktion der Weltwirtschaft in dessen Mittelpunkt der Energieriese EGenco steht, dem ranghohe Regierungsmitglieder als Aufsichtsräte angehören. Abschließend wird am Fall Westwoods gezeigt, wohin der "Sicherheitswahn" einer Weltmacht führen kann bevor die "große Verschwörung" glücklicherweise dann doch noch aufgeklärt wird.
Zu den Themenkomplexen "9/11", Terrornetze im Nahen (oder Fernen?) Osten, Machenschaften der Ölmultis etc. wurden bereits dem aktuellen Zeitgeist folgend mehrere Thriller geschrieben. Aber gleichsam so spannend, lehrreich und realistisch wie in "Midas" ist dies bislang selten geschehen. Natürlich hat dies seine Schattenseiten. Viele Behörden und noch mehr Mitarbeiter wollen vorgestellt und anschließend auseinander gehalten werden. Die Hinweise auf die möglichen Verstrickungen der US-Spitzen bis hin zum Präsidenten in die Machenschaften der skandalträchtigen EGenco (Milliardenverluste, Gründung von Objektgesellschaften, Geldwäscherei u. ä.) sind teils etwas langatmig und erfordern hohe Aufmerksamkeit. Dafür erhält man zur Belohnung aber auch einen extrem authentisch anmutenden Plot, der einen mit Schaudern nach Amerika blicken lässt. Denn das, was hier als Fiktion im Roman beschrieben wird, so steht zu fürchten, könnte bei einer Reihe von Terroranschlägen in Amerika selbst, exakt die hier beschriebenen Folgen haben. Thank you, Mr. President!
Trotz der anspruchsvollen "technischen" Passagen bezüglich EGenco ist "Midas" alles in allem ein kurzweiliger Lesespaß, der sicher nicht nur als Alternative für Freunde von Tom Clancy in Frage kommt.
Die Charaktere sind, ihrer Menge Tribut zollend, nur sehr oberflächlich dargestellt, sieht man von der Hauptfigur des Justin Westwood ab. Ein Polizist, der durch nichts zu erschüttern und zudem ein schierer Gerechtigkeitsfanatiker ist. Er bedenkt nicht groß die Folgen seines Handelns, sofern er von dessen Richtigkeit überzeugt ist. Gerne greift er zum Alkohol, gelegentlich zu einem Joint und Kontakte zum Organisierten Verbrechen müssen nicht zwangsläufig schädlich sein. So passt es denn ins Bild, dass er keine Angst vor den mächtigen Behörden hat und - letztlich - den Fall mehr oder weniger im Alleingang löst. Dies erscheint für einen Provinzpolizisten von East End Harbour allerdings (ein bisschen?) sehr stark übertrieben, aber dies ist dann schon der einzige wirklich negative Aspekt, in einem überzeugenden Page-Turner, bei dem man oftmals nicht weis, wer auf welcher Seite kämpft.
Mit "Midas" ist übrigens nicht jener Sagenkönig gemeint, der sich einst wünschte, dass alles, was er berührt, zu Gold wird (übrigens ein tödlicher Fehler, wie sich schnell herausstellte). Die Assoziation würde allerdings passen. Was es mit "Midas" im vorliegenden Roman genau auf sich hat, wollen Sie aber sicher selber lesen...
Russell Andrews, Rowohlt
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