Der Kalenderblattmörder
- dtv
- Erschienen: Januar 2006
- 14
- Warschau: Wydawn, 2003, Titel: 'Koniec świata w Breslau', Originalsprache
- München: dtv, 2006, Seiten: 334, Übersetzt: Paulina Schulz
- Hamburg: Hoffmann & Campe, 2008, Seiten: 2, Übersetzt: Hans-Werner Meyer, Bemerkung: gekürzt
Durch Breslau braust der Meuchelmord
Kriminelles aus Polen? Da fallt uns spontan als hartnäckige Klischees zumeist nur die Assoziation zu Autoschieberbanden, Zigarettenschwarzmarkt und organisiertem Etikettenschwindel bei Markenklamotten ein.
Kriminalliteratur aus Polen? Schon mal gelesen? Achselzuckend dürfte die Mehrheit der Krimifans jetzt ziemlich ratlos sein.
Und Hand aufs Herz: Außer dem Altmeister des utopischen Romans Stanislaw Lem und dem Guru der Literaturkritiker, dem gefürchteten und zugleich geschätzten Marcel Reich-Ranicki fallen wohl nur den Wenigsten und nur nach langem Nachdenken noch weitere Schöngeister ein, die innerhalb der aktiven schreibenden Zunft in Polen von internationaler Bedeutung sind und über die Landesgrenzen hinaus für Furore gesorgt haben.
Deshalb wird es allerhöchste Zeit, dass wir uns jetzt und an dieser passenden Stelle dem Namen Marek Krajewski (geboren 1966) mit der ihm gebührenden neuen Aufmerksamkeit widmen!
Aber Vorsicht!: Wer Hardcore-Krimiliebhaber ist, sich also mit Vorliebe bei leicht angesträubtem Nackenhaar bis zum frühen Morgengrauen von Seite zu Seite thrillt, wird nur mühsam Zugang zu Krajewski finden. Aber für die Fangemeinde des literarisch anspruchsvollen Kriminalromans mit Vorliebe zum authentischem Touch und der Liebe zur detailvollen, prallen Schilderung aus längst vergangenen Zeiten sind die aufgeschriebenen Begebenheiten im schaurigen Breslau ein garantiertes Lesevergnügen!
Dabei ist Marek Krajewski für den vielseitigen und aufmerksamen Leser in der deutschsprachigen Krimilandschaft durchaus kein Unbekannter: Sein Erstling Tod in Breslau erschien hierzulande bereits 2004 als Taschenbuch. Und was sehr aufschlussreich ist: Man schaue sich vom "Tod in Breslau" die dazu bisher geäußerten Leserkurzrezensionen auf unserem Internetportal ein wenig genauer an: Das lässt erahnen, welche unbeachtete Krimiperle in den diffusen Tiefen und zur Wahrnehmungslosigkeit überschattet von all den klangvollen Bestsellerautor/Innen hier vor sich hin schimmert - und deshalb leider auch noch vor sich hin schlummert!
Krajewski und sein altphilogogisches Potential
Marek Krajewski ist studierter Altphilologe und doziert an der Universität seiner Heimatstadt Wroclaw. Als Literatur- und Sprachwissenschaftler muss er wohl schon aus Gründen des Berufsethos ein Pedant mit der Liebe zur eindeutigen, unmissverständlichen Schilderung der Wahrheit sein. Krajewski also ein langweilender Erbsenzähler, ein nervender Korinthenkacker, der Spitzweg unter den Krimiautoren?
Weit gefehlt! Der neugierige, also von der Gier auf Neues angefixte Krimileser wird seine Freude haben an den überaus authentisch wirkenden Schilderungen der in seinen Romanen auftretenden Menschen und den äußeren Umständen, mit denen sie mehr oder weniger klarkommen müssen. Das erinnert stark an die Romane von Charles Dickens.
Die beschriebene Atmosphäre wird dem Leser durch diese penible Exaktheit so plastisch geschildert, dass er - mit etwas Fantasie begabt - mühelos in die Welt des Breslaus zwischen den Weltkriegen eintaucht und vom Handlungsstrudel unwiderstehlich mitgerissen werden wird.
Krajewski versteht es, beim Leser wirklich alle Sinne zu sensibilisieren. Man wird immer mehr vereinnahmt von der stürmischen Atmosphäre in dieser Stadt mitten in der wilden, scheinbar tabulosen Hoffnungs-, Umbruch- und Lebenszeit nach dem Ersten Weltkrieg. Und weil so Vieles haargenau geschildert wird, hat man ständig den Eindruck, der ganze Plot beruht fast ausschließlich auf geschichtsträchtiger Wahrheit und ist nicht das Fantasieprodukt eines fabulierenden Dichters!
Krajewski wird dabei zum altphilologischen Jäger und Sammler, der erfolgreich "Heimatkunde" betreibt und auf hohem literarischen Niveau der Stadt Breslau ein eindrucksvolles Denkmal setzt. Welch´ liebevolle Sisyphusarbeit, welch´ enormer Zeitaufwand, all diese vielen, scheinbar nebensächlichen Details aufzustöbern und zu einem stimmungsvollen und noch dazu schlüssigen Sittenbild zu vereinen!
Krajewski schreibt glaubhaft über die gesellschaftlichen Geschehnisse seines Kriminalromans. Alle beschriebenen zügellosen und lasterhaften Ereignisse (ungehemmte, drogengeschwängerte Sexualorgien stehen in der Breslauer Welt der Mondänen, Schönen und Reichen ebenso auf der Tagesordnung wie grenzenlose, hasardeurhafte Spielsucht und befremdliche okkultistische Treffen) vermitteln aufgrund der sehr genauen Beschreibung und plastischen Einordnung in Raum und Zeit einen hohen Echtheitsfaktor.
Und das ist ein kleiner, aber sehr feiner Unterschied zu den vielen Thrillern, bei denen häufig auf "Teufel komm raus" mit absonderlichsten Techniken blindlings gemordet wird.
Der Leser sitzt fröstelnd (gespannt und spannend beobachtend) im dunklen Fiaker und wird gnadenlos vom harten Breslauer Kopfsteinpflaster durch gerüttelt. Mittendrin statt nur dabei, einfach nur genial!
Breslau - das schlesische Berlin der Goldenen Zwanziger?
Breslau (das heutige Wroclaw) gehörte als wichtige Stadt Schlesiens im Jahre 1927 zum deutschen Territorium.
Und dieses Breslau kennt der Autor (berufsbedingt?) wie seine Westentasche, was es ihm zu einer Herzenssache macht, uns ein spannendes Sitten- und Unsittenbild dieser Metropole und seiner Menschen zu vermitteln.
Hauptfigur des Romans ist Herr Kriminalrat Eberhard Mock. Mock ist ein stämmiger, dunkelhaariger Vierundvierzigjähriger, der opulentes Essen und Trinken, Zigarren und antike Schriften zu seinen Leidenschaften zählt. Er ist verheiratet mit der fünfundzwanzigjährigen Sophie, die er wegen ihrer grünen Augen, langen blonden Haare, aber besonders wegen der üppigen Brüste unbedingt haben wollte. Sophie ist seine Gattin, seine Trophäe, die er gern als Platzhirsch stolz der Öffentlichkeit präsentiert. Sophie ist ein Objekt der Begierde:
" Sophie nahm eine Zigarette, in Gedanken versunken, und hob langsam den Blick. Die grüne Flamme ihrer Augen leckte über über die Gesichter der sie umgebenden Männer. Arme in Smokings schnellten nach vorn, unter den schneeweißen Manschetten blitzten manikürte Hände auf, die Feuerzeuge hielten."
Zum seinem Leidwesen ist die Ehe kinderlos, obwohl er Sophie so gern täglich beglücken würde. Aber eigentlich ist er auch ein heimlicher Schisser, der an seinen Sprüchen zweifelt und tief im Innersten Angst davor hat, sein machohaftes Getue unter Beweis stehen zu müssen und dabei als Mittvierziger kläglich zu versagen. So kommt in den entscheidenden Momenten von Sophies Willigkeit dann häufig ein dringender dienstlicher Anruf dazwischen, dem Eberhard Mock, schnell die Hose hoch ziehend und in seinen startbereiten Adler springend, auch prompt in vorgetäuschter Diensteifrigkeit selbst Nachts unverzüglich nachkommt. Das ist schließlich eine Frage der Berufsehre, auch wenn seine steile Karriere auf nicht ganz koschere Art und Weise abgelaufen ist.
Das führt zu Spannungen, Vorwürfen und Misshandlungen, da ziert schon mal ein zusätzliches Veilchen die schönen Augen von Sophie, da vergewaltigt Mock auch schon sein vollbusiges Objekt der Begierde, wenn es ihn animalisch übermannt. Reue und immense Blumengebinde, versehen mit markigen Bekenntnissen wie "Nie wieder!" sollen Sophie dann wieder wohl gesonnen stimmen. Die Ehe bröckelt mehr und mehr. Das treibt den jähzornigen Mock immer häufiger in die ortsansässigen Wirtshäuser und Bordelle, zugleich quält ihn aber auch (durchaus berechtigte!) Eifersucht. Er ist schließlich und letztendlich auch nur ein Mann, wenn auch ein stark gefühlskalter und berechnender. Kajewski schafft es bei Mock und den anderen Hauptakteuren seines Romans, hervorragende plastische Figuren darzustellen. Charisma pur, wenn auch meistens negativ besetzt.
Übrigens greift der egoistische Karrieremensch Eberhard Mock auch schon mal zu eigenwilligen Kompetenzüberschreitungen, um z.B. seine Frau Sophie oder seinen Neffen und Möchtegernsohn Erwin Mock beschatten zu lassen. Wozu hat man schließlich untergebene Mitarbeiter, die man dank seiner Stellung innerhalb der Hierarchie im Breslauer Polizeiapparat schon mal von laufenden Fällen für private Beschattungen unauffällig abzweigen kann?
Mock und die halbherzige Suche nach dem Serienmörder
Und im Fall des "Kalenderblattmörders" hätte die Breslauer Polizei eigentlich alle Hände voll zu tun. Schließlich treibt hier ein brutaler Serienmörder sein die Bevölkerung verunsicherndes und die Boulevardpresse hellhörig werdendes Unwesen.
Die ausgewählten Opfer lassen jedoch kein vordergründiges Opferprofil und StandardMordsystem erkennen, was für Serienmörder typisch wäre. Bemerkenswert ist nur, dass die Vorgehensweise immer äußerst brutal ist und an jedem Toten ein Kalenderblatt auf das Datum der Mordtat hinweisen soll.
Es dauert schon geraume Zeit, bis Eberhard Mock und seine Breslauer Polizeimitarbeiter auf die Spur kommen, dass die Aktivitäten des Kalenderblattmörders Bezüge aufweisen zu vergleichbaren Taten in der längst archivierten Geschichte Breslaus.
Als das verruchte und wilde Berlin sowie Wiesbaden mit seinem damals bis weit über die deutschen Grenzen bekannten Spielkasino weitere Tatorte der Verbrechen werden und eine stadtbekannte Breslauer Persönlichkeit nebst Gespielin in einem Bordell brutal hingerichtet werden, steht Mock unter ungewohntem Zugzwang. Der Serienmörder muss unter dem zunehmenden Druck der Öffentlichkeit und mit Einsatz aller Spezialisten schnellstens gefunden werden, bevor es zu weiteren Katastrophen und Imageverlusten der Breslauer Polizeispitze kommt.
Mitunter - wenn´s zügig gehen muss bei den Ermittlungen und Erfolge gefragt sind - griffen Eberhard Mock und seine nicht zimperlichen Breslauer Kriminalkollegen erfahrungsgemäß dann auch schon mal zur härteren, nicht ganz legitimen Gangart: Mit Schlagringeinsatz und die eigene Kleidung schützender Gummischürze konnten wichtige Verhöre schon mal ein wenig beschleunigt werden...
Dass Mocks verschollener Neffe Erwin und sein eigene Ehefrau Sophie plötzlich in die Fälle verwickelt zu sein scheinen, macht die Sachlage für den Kriminalrat nicht gerade einfacher. Die Jagd nach dem "Kalenderblattmörder" muss endlich erfolgreich abgehakt werden...
Mit "Der Kalenderblattmörder" hat uns Marek Krajewski als Professor für Altphilologie an der Uni Wrozlaw einen Kriminalroman geschenkt, in dem pulsierendes Leben und eine ungeheure kriminelle und amoralische Energie steckt.
In intensiver, wortgewaltiger und detailgetreuer Sprache wird die spannende Atmosphäre einer ganzen Stadt und ihrer Menschen verewigt.
Die Handlung des Kriminalromans ist verdichtet von Sonntag, den 27. November 1927 (Mitternacht) bis Freitag, den 27. Dezember 1927, neun Uhr morgens. Die jeweils exakte Zeit- und Ortsangabe wird als Entree für sämtliche, übrigens übersichtlich kurze Kapitel beibehalten. Das lässt für den aufmerksamen Leser durchaus Pausen zu, um (quasi zwischendurch...) wichtige Alltagsarbeiten nicht zu vernachlässigen und danach ohne Spickzettel wieder mitten im Roman zu sein: Keine Zeitsprünge, nur wenige Wechsel der Orte und Handlungsebenen.
Eine fast protokollarische Schilderung, die beim Leser Glaubwürdigkeit suggeriert. Ein Meisterwerk, Herr Krajewski, danke.
Der Roman wurde in Polen 2004 zum "Krimi des Jahres" ausgezeichnet, die deutsche Erstveröffentlichung katapultierte sich aus dem Stand in die Top 10 der "Krimi-Weltbestenliste 0606", nachzulesen unter ARTE.
Das einzig Bedauerliche: Der Fall ist eine Art Beichte, die der lungenkrebskranke Eberhard Mock vom Sonntag, den 20. November 1960, zehn Uhr abends bis Montag, den 21. November 1960, fünf Uhr früh (sic!!!) seinem aus früheren Zeiten vertrauten Kollegen Herbert Anwaldt macht.
Ist mit dem Ableben von Eberhard Mock das Ende einer beeindruckenden Krimiserie aus dem Breslau zwischen den zwei Weltkriegen besiegelt? Es wäre ein Verlust für die europäische Krimilandschaft, was die Leser des "Kalenderblattmörders" sicherlich bestätigen werden.
Marek Krajewski, dtv
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