Was du nicht siehst
- Krüger
- Erschienen: Januar 2006
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- New York: Simon & Schuster, 2005, Titel: 'Bleedout', Seiten: 376, Originalsprache
- Frankfurt am Main: Krüger, 2006, Seiten: 448, Übersetzt: Irmengard Gabler
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Immer wieder spannend, wenn Krimi-Debüts direkt im Hardcover publiziert werden: Welchen Autor haben die Verlage da wieder unter Vertrag genommen und rechtfertigt dann der Inhalt das aufwändige und teure Hardcover? Oft erlebt man dann Überraschungen — positive wie auch negative. Wenn zudem ein lobtriefendes Zitat von der renommierten Val McDermid auf dem Umschlag prangt, sind die Erwartungen ziemlich hoch gehängt. "Nichts ist wie es scheint" — nun gut, dieses Prädikat ziert auch viele andere Romane und irgendwie ist es natürlich auch für dieses Werk treffend.
Erster Eindruck nach 75 Seiten: Ein wildes Rumgehopsel ohne den rechten roten Faden aufzunehmen. Als zunächst liest man einen Brief oder Tagebucheintrag von einem Menschen, der befürchtet, umgebracht zu werden. Die nächste Szene spielt auf einer Beerdigung, zu der ein unerwünschter Gast erscheint. Dann wieder eine Art Tagebucheintrag eine plötzliche Erblindung betreffend. Orientierungslos und verloren fühle ich mich zwischen den einzelnen Erzählsträngen, bis plötzlich klar wird, dass der "Verfasser" des Tagebuchs im anderen Erzählstrang gerade unter die Erde gebracht wurde, ein Rechtsanwalt war und einer seiner Mandanten — offenbar ein verurteilter Mörder — von allen Seiten als der vermeintliche Mörder des Anwalts angesehen wird.
Opfer oder Täter?
David Marion ist der Außenseiter, der von ganz Springfield vielleicht zu Unrecht als Mörder abgestempelt wird. Auf ihn, seine 18-jährige Haftzeit im Gefängnis South Hams und die komplizierte Beziehung zum blinden Anwalt Hugh Freyl, der sich berufen sah, inhaftierten Jugendlichen eine Schulbildung zukommen zu lassen, baut sich die weitere Handlung auf.
Zweiter Eindruck nach 300 Seiten: Endlich kriegt die Autorin die Kurve. David Marion bleibt dabei ein Protagonist, der dem Leser nur schwer zugänglich ist. Aber so verschlossen wird auch der Charakter des als Kind sozial Vernachlässigten von der Autorin dargestellt. Mal wird er als der liebe Nachbar von nebenan geschildert, dann wird aus ihm plötzlich der gesellschaftsfremde Ex-Knacki, der nicht mit dem Leben außerhalb der Gefängnismauern zurecht kommt. Erstaunlich, was dieser hochintelligente Junge alles in Gefangenschaft gelernt hat. Unglaubwürdig, dass er von der Mutter Hugh Freyls den Auftrag erhält, den wahren Mörder zu suchen und sich ihm durch deren Wort alle Türen und Tresore der Stadt für ihn öffnen. Absolut unglaubwürdig, dass ihm ein Richter vom Obersten Gerichtshof bedenkenlos ein falsches Alibi gibt. Aber nachdem nun rund zwei Drittel des Romans herum sind, scheint Marion auf der Spur eines politischen oder wirtschaftlichen Skandals zu sein.
Wenn das Schicksal zuschlägt
Joan Brady hat für ihren ersten Kriminalroman zwei Protagonisten gewählt, denen das Schicksal übel mitgespielt hat. Da ist der Anwalt aus reichem und angesehenen Hause, der plötzlich erblindet, dessen Frau bei einem Autounfall stirbt und dessen Tochter sich von ihm entfremdet hat. Auf der anderen Seite ein Mann, der als 15-jähriger seinen Pflegevater und dessen Sohn ermordet hat, nachdem er zuvor über Jahre von Behörden und Pflegefamilien herumgeschubst wurde, die in ihm nicht mehr als ein Melkkalb für staatliche Erziehungsbeihilfen sahen, jemand der nicht erst im Gefängnis gelernt hat, dass er niemandem auf der Welt vertrauen kann. Man sollte meinen, dass solche Schläge einen Menschen prägen. Es vermittelt sich jedoch der Eindruck, dass beiden Protagonisten immer erst wieder eingetrichtert werden muss, wie schwer sie es im Leben haben, damit sie sich mal wieder für zwei Seiten auch entsprechend verhalten. Der Leser kann spüren, wie wenig Nähe die Autorin selber zu ihren Hauptfiguren aufgebaut hat — wie soll sich dann der Leser mit ihren Schicksalen identifizieren?
Abschließender Eindruck: Es ist wirklich nichts wie es scheint. Der sich anbahnende Wirtschaftskrimi ist es also nicht geworden. Sowieso abenteuerlich, wie Brady Fehlbuchungen und Konkursbetrug zu erklären versuchte. Stattdessen erleben wir noch ein kleines Blutbad und eine Auflösung, die als Enttäuschung abzuhaken ist. Ringelpiez mit Umbringen. Einerseits wenig originell und andererseits gleichsam überraschend, wie Val McDermid sich zu dem Zitat "Meisterwerk der Spannung" hat hinreißen lassen können. "Was du nicht siehst" scheint sich auf den roten Faden zu beziehen, der dem Roman irgendwie fehlt. Darum ein wenig überzeugendes Werk.
Joan Brady, Krüger
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