Stalking
- Fischer
- Erschienen: Januar 2006
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- Frankfurt am Main: Fischer, 2006, Seiten: 240, Originalsprache
freundin-Auszeichnung beim Agatha-Christie-Krimipreis 2006. Veröffentlicht in der Anthologie "Gefährliche Gefühle"
Ich befinde mich momentan in einer äußerst unangenehmen Situation, denn während ich das hier notiere, hält mir jemand ein Messer an den Hals und zwingt mich dazu, zehn Schreibmaschinenseiten (je 30 Zeilen à 60 Anschläge) vollzuschreiben. Ich denke, dass sich das auf meinen Stil auswirken wird, er wird wahrscheinlich noch eckiger, als er ohnehin schon ist. Ich war im Schriftlichen nie besonders gut, dafür habe ich aber immer gerne gelesen, manchmal auch richtige Literatur. (Ich soll nicht abschweifen, sagt der Mann mit dem Messer an meinem Hals. Ich frage ihn, ob ich denn diese Geschichte, wenn ich sie fertig geschrieben habe, nochmals durchsehen könnte auf Fehler und Unstimmigkeiten? Nein, sagt er, die muss so bleiben, wie sie ist, ich will ja gerade so was Gehetztes, so was Unfertiges, Hingeschludertes.)
Gut, jetzt habe ich Ihnen geschildert, was ich nicht so gern mache, nämlich schreiben, jetzt kommt das, was ich leidenschaftlich gern mache, es gibt seit neuestem ein eigenes Wort dafür: stalking. Als ich Zwanzig war, gab es den Begriff noch nicht, trotzdem hab ichs gemacht, ich bin oft zum Hauptbahnhof gegangen, um die Züge und die Reisenden zu beobachten, das ist eine ganz besondere Atmosphäre, und bei den vielen Begrüßungen und Abschieden habe ich mich oft gefragt, wo beispielsweise der Mann mit Hut herkommt und wo die Frau mit dem geblümten Kleid hinfährt. Ich habe mir dann Geschichten zusammengesponnen. (Zusammengereimt? Zusammenphantasiert? Was klingt hier gehetzter? Der mit dem Messer sagt: Weiter, weiter, nicht lange überlegen! Keine ausgefeilte Wortwahl, einfach hinschreiben, ich will gerade die unüberlegten Eindrücke.) Auf dem Bahnhof ist mir dann auf einmal jemand aufgefallen in der Menge, und ich hab mir gedacht: Der muss es sein, den knöpf ich mir vor, dem gehe ich jetzt nach bis ans Ende der Welt. Wichtig war für mich damals, dass es ein Fremder war, ein wild herausgegriffener Mensch. Die meisten der heutigen Stalker missachten schon einmal diese erste Grundregel, dass es ein wild herausgegriffener Mensch sein muss, die machen es bei Bekannten, Verwandten, Geliebten, das muss ja schief gehen, wenn man schon die erste, wichtigste Grundregel missachtet. Aber ich bin mit diesem einen wild herausgegriffenen Menschen im Zug mitgefahren. Ich bin ausgestiegen, als er ausgestiegen ist. Ich habe mir die Zeitungen gekauft, die er gekauft hat. Ich habe in den Hotels gewohnt, in denen er gewohnt hat. Ich kenne seitdem seine Heimatstadt, seine Familie, seine Vorlieben, seine Schwächen. Ich habe Macht über ihn. Schon während der ersten Zugfahrt wusste ich mehr über ihn und seine Frau als seine Frau und er über sich und ihren Mann. (Für den letzten Satz hat er das Messer kurz weggenommen und mich ehrfürchtig auf die Stirn geküsst.) Ich will ja in dieser Situation nicht auch noch angeben, aber das mit dem Messer am Hals ist ursprünglich meine Idee gewesen. Nicht, dass ich ein besonders brutaler Mensch bin, aber das erste Mal habe ich das Messer verwendet, als ich bei Günter Grass in der Wohnung war. Ja, Sie haben richtig gelesen: Ich war bei Günter Grass, dem berühmten Autor, der dann später den Nobelpreis bekommen hat für seine Romane. Ich war natürlich nicht einfach in seiner Wohnung, ich habe ihn schon lange beobachtet, ich bin ihm gefolgt, ich habe ihn umkreist, ich war auf der Pirsch. Die Jäger unter Ihnen werden mich sicherlich verstehen, auch die Privatdetektive und die Enthüllungsjournalisten, vielleicht auch die Kriminalkommissare und unglücklich Verliebten, aber vor allem die Jäger werden mich verstehen: Frühmorgens schon raus und Witterung aufnehmen! Dem Wild langsam und genüsslich folgen, das Gefühl auskosten, nach und nach alles über seine Gewohnheiten zu erfahren. Ich bin ihm von einer Lesung nachgefahren, zu ihm nach Hause, ich möchte aber nicht sagen, wohin ich da gefahren bin und wo er wohnt, sonst fahren da noch andere Leute hin und belästigen ihn wirklich. Und das, was ich mache, hat mit Belästigung nun wirklich nichts zu tun. Ich find es auch gut, dass da jetzt so Gesetze rausgekommen sind gegen das schlecht gemachte stalking, es war längst fällig, dass man was tut gegen Stümper und Leute, die sich bloß rächen wollen, vor allem nach Trennungen. Das sind die schwarzen Schafe unter den Stalkern, und ich frage mich oft, ob die es wirklich ernst meinen und wirklich daran glauben, dass sie den Bussibären oder die Bussibärin durch ein miserables stalking zurückbekommen, wahrscheinlich sind die so naiv. (Klasse, sagt der Messermann, der mit der Klinge an meinem Hals herumschabt, glauben Sie mir, sagt er, ich habe schon lange nicht mehr so etwas Echtes gelesen!)
Ich seh ihn durchs Fenster, den Günter Grass, wie er die Schuhe abstreift und sich Schlappen anzieht, ich sehe auch, dass er ganz allein ist. Darüber habe ich mich schon beim gemeinsamen und doch getrennten Herfahren gewundert, denn obwohl er von den vielen Verehrerinnen, die sich nach seiner Lesung um ihn gedrängelt haben, sicher eine hätte mitnehmen können nach Hause, ist er allein heimgefahren. Ich stand dann im Garten seiner Wohnung und sehe, dass die Terrassentür geöffnet und angelehnt ist. Vielleicht, dachte ich, ist ja die Terrassentür deswegen angelehnt, weil er bei einer der Verehrerinnen keine Widmung in das Buch geschrieben hat, sondern so was wie:
Rue de Saussure 26, die Terrassentür ist offen. Günter. Mist, jetzt wissen Sie die Adresse. Aber Sie wissen ja nicht, dass es Paris war. Jetzt wissen Sie auch das. Ist aber eigentlich egal, der wohnt ja da wahrscheinlich nicht mehr. Ich geh also durch die geöffnete Terrassentür rein zu Günter Grass in sein Arbeitszimmer, ich hätte ihn aber dort normalerweise nie angesprochen. Reingehen durch die geöffnete Terrassentür, sich in dem Gefühl baden, ganz kurz Teil seines Lebens zu sein und irgendwann wieder rausgehen, das hätte mir genügt. Geben Sie es zu, liebe Leser, das würde Sie doch auch erregen? Lehnen Sie sich mal ganz zurück, denken Sie an Ihren Lieblingsprominenten und stellen Sie sich vor, dass Sie in seinem Zimmer stehen, ohne dass er es merkt. Spüren Sie die Macht, die Sie dadurch bekommen können? Ich glaube sogar, dass der eine oder andere von Ihnen hier die Lektüre abbricht, aufsteht und jemandem nachstalkt.
Günter Grass, der den Nobelpreis damals noch nicht hatte, hatte also die Schlappen angezogen. Heute sagt man nicht mehr Schlappen, man sagt -? (Der, der mit der Messerspitze inzwischen an meiner Kehle angelangt ist, sagt, dass man heute Flip-Flops sagt, ja, in ein paar Jahrzehnten sagt man wieder ganz anders dazu, was solls also.) Dieser Grass, der Schriftsteller, schnäuzte sich jetzt, räusperte sich, dann hat er noch ein paar Sachen gemacht, so persönliche Angewohnheiten, auch peinliche Marotten, die ich jetzt nicht beschreiben will, sonst heißt es dann später, mir ginge es nur um das. Darum geht es mir aber überhaupt nicht, mir geht es um die folgenlose Nähe und nicht um irgendwelchen Tratsch. Jedenfalls hatte ich, als ich reingegangen bin in Grass Arbeitszimmer, niemals die Absicht, ihn anzureden oder anderweitig mit ihm in Kontakt zu treten. Aber ich muss jetzt zuvor unbedingt noch was anderes erzählen, denn es stimmt nicht ganz, dass meine Leidenschaft für das Nachpirschen erst mit dieser Bahnhofsgeschichte begonnen hat, eigentlich habe ich schon als Kind mit dem stalking begonnen, damals war es ein Spiel, denn wir, nämlich ich und meine Geschwister, liefen Leuten auf unserer Straße einfach nach, ohne dass sie es merken sollten. Wir bekamen natürlich bald heraus, wo und wann man als Jäger eher unentdeckt bleibt, nämlich auf belebten Straßen, in der Dämmerung, an einem voll besetzten Badestrand. Und wir haben gelernt, welchen Menschen man leicht folgen kann, das waren eilige Erwachsene, verliebte Pärchen, konzentrierte Geschäftsleute. Schwer hingegen ist es bei Trödlern, Müßiggängern, Spaziergängern, Philosophen, Spinnern und Künstlern. Die blicken aus irgendeinem Grund oft hinter sich, die bemerken es, wenn ihnen jemand folgt. Ich schreibe jetzt ganz bewusst folgen und nicht verfolgen. Ich wollte noch nie was von den Leuten, ich gehe Leuten halt ganz gerne nach, ohne dass sie das wissen. Ist nicht die Lektüre eines Buches eine ganz delikate Art, die Gedanken von jemandem zu verfolgen, ohne dass er es momentan weiß? (Keine philosophischen Spekulationen, sagt der Messermann, Eindrücke, hingeworfene Einfälle!) Das Allerwichtigste bei dieser wunderbaren Beschäftigung, die jedes Hobby, jede andere Betätigung in den Schatten stellt, war für mich immer, den Menschen, dem ich folge, nicht zu belästigen! Das ist das A und O beim stalking. Und das wird heutzutage in den allermeisten Fällen ganz falsch gemacht.
So stand ich also, ohne dass er es wusste, im Zimmer von Grass, dem späteren Nobelpreisträger, und er geht an einen Tisch und legt die Hand auf einen Stoß mit ungeöffneten Briefen, er nimmt den obersten Brief in eine Hand, er nimmt einen Brieföffner in die andere Hand und schlitzt langsam den Brief auf. Er hat wahrscheinlich lange auf diesen Brief gewartet, ich hatte den Eindruck, dass er fast ein wenig gezögert hat, den Brief zu öffnen. Ich hatte genug gesehen und ich wollte mich gerade wieder hinausschleichen, ich will mich gerade umdrehen, da stoße ich zusammen mit der Verehrerin, die höchstwahrscheinlich die Widmung - Rue de Saussure 26, die Terrassentür ist offen. Günter. - ernst genommen hat und gekommen ist. Die stand also plötzlich in der Terrassentür, hat mich gesehen, ist erschrocken, hat sich umgedreht und ist sofort wieder hinausgerannt in den Garten. Durch den Lärm wurde aber jetzt Günter Grass aufgeschreckt, er hob den Kopf und entdeckte mich. Noch nie hat mich jemand bei meiner lustvollen Beschäftigung entdeckt, noch nie vorher war ich beim stalking überrascht worden und ich war total perplex, Grass übrigens auch, und er stammelte ganz unliterarische, vollkommen banale und nahe liegende Sätze wie: Was wollen Sie hier? Wer sind Sie? Gehen Sie bitte! Ich war ziemlich enttäuscht, dass ein so großer Kopf so belanglos reden kann, er tat dann aber noch etwas viel Schlimmeres: Er fragte mich, ob ich ein Autogramm haben will. Ein Autogramm! Verstehen Sie, lieber Leser, liebe Leserin, er bietet mir ein Autogramm an, als ob ich ein stinknormaler Fan wäre! Ich bin dagestanden und habe nichts gesagt, da kramt er in der Schublade, holt ein Bündel Geldscheine heraus und bietet mir davon was an. Er bietet mir Geld an! Wie einem Schnorrer! Ich war außerordentlich wütend und ich sagte, so, Herr Grass, jetzt nütze ich das erste Mal in meinem Stalkerleben irgendetwas aus. Ich will kein Autogramm, ich will kein Geld, Sie schreiben jetzt was für mich. Jetzt war der Herr Grass wiederum zornig: Sie brechen hier bei mir ein und dann soll ich was für Sie schreiben? Was denn um Gottes willen? Lieber Herr Grass, mein Sohn ist zehn Jahre alt und gerade ins Gymnasium gekommen, er muss den Aufsatz Wie ich einmal einem Tier geholfen habe schreiben. Er ist da ganz schlecht bei solchen Aufsätzen und das machen jetzt Sie, Herr Grass. Das mach ich nicht, sagt der. Und jetzt bin ich hin zu ihm und hab ihm den Brieföffner aus der Hand genommen und herumgefuchtelt, da wollte er weglaufen, aber dann habe ich den Brieföffner an seinen Hals gehalten und hab gesagt, so, jetzt schreiben Sie das! Ich hätte natürlich nie zugestochen, aber jetzt hat er geschrieben, und das war natürlich schon ein Ding, das mir gefallen hat: Wie da einer sitzt, dessen Riesenromane auf der ganzen Welt gelesen werden, und der muss jetzt einen Schulaufsatz schreiben für Zehnjährige. Wie ich einmal einem Tier geholfen habe. Ich habe dieses neue Gefühl der Macht ausgekostet, meinem Sohn hat es aber nichts genützt, der Deutschlehrer hat nämlich für den Aufsatz eine glatte Sechs gegeben.
Trotzdem hat jetzt mein stalking eine andere Wendung, einen anderen Kick bekommen. (Der mit dem Messer an meiner Halsschlagader herumpiekst, sagt: Weiter, weiter, keine psychologischen Hintergründe, gehetzten Stil beibehalten, weiter!) Also gut, Sie ahnen es vielleicht schon, das hat mir gefallen, das mit den Prominenten. Ich hatte das stalking inzwischen so gut drauf, dass ich eigentlich jedem überallhin folgen konnte, ohne dass er das bemerkt hat. Ich habe die Kunst erlernt, mich unsichtbar zu machen, ich bin jeder noch so gut geschützten und abgeschirmten Person so nahe gekommen, dass ich mir gedacht habe, Mensch, ich hätte schon so manchen amerikanischen Präsidenten und japanischen Kaiser abmurksen können. Und jetzt muss ich Ihnen, lieber Leser oder liebe Leserin, schon mal was sagen: Sie sind sicher schon einmal mitten in der Nacht aufgewacht, ganz im Dunkeln, und hatten das Gefühl, dass noch jemand im Raum ist. Wenn jemand von Ihnen schon mal so etwas erlebt hat, dann kennen wir uns, sozusagen.
Ich habe mich also an Prominente herangepirscht, habe dann meine Stalkertarnung freiwillig aufgegeben und habe denen irgendeine kleine Aufgabe gestellt, meistens habe ich sie was schreiben lassen, aber manche mussten auch etwas anderes machen, Maler zum Beispiel, die mussten was malen, oder Schauspieler, die mussten was spielen. Zu Jessica Lange bin ich extra nach Amerika gefahren, die hat ein kleines Haus an einem der zwölftausend Seen des Bundesstaates Minnesota, so viel kann ich ja wohl verraten. (Der mit dem Messer nickt zustimmend.) Als ich mich zu erkennen gegeben habe, lief wieder das übliche Spiel hab, ich rufe gleich den Sicherheitsdienst, wollen Sie ein Autogramm, wollen Sie Geld. Nein, sage ich stolz und setze ihr das Messer an die Kehle, Sie sind Schauspielerin, also spielen Sie mir was vor. Wie bitte, sagt Jessica Lange. Ja, spielen Sie mir die berühmte Szene am Küchentisch aus Ihrem Film Wenn der Postmann zweimal klingelt vor, mit Jack Nicholson. Sie glauben mir vermutlich nicht, aber Jessica Lange hat sich tatsächlich in ihrem doch schon etwas gereifteren Alter auf den Tisch gelegt und die Bewegungen und das Gesicht aus dem Film gemacht und den Text dazu gesprochen.
Die Geschichte zeigt auch, warum mein Treiben nie an die Öffentlichkeit gelangt ist: Was hätten die ganzen Prominenten der Polizei auch schon sagen sollen? Dass sie jemand gezwungen hat, eine Szene aus einem Film vorzuspielen? Meistens waren es aber keine Schauspieler, sondern berühmte Schriftsteller, mit denen ich das gemacht habe. Nachdem ich bei Jessica Lange war, dachte ich, jetzt bist du schon mal in Amerika, jetzt kannst du doch auch gleich zu John Grisham, dem Thrilleronkel, gehen. Als ich bei ihm war, gab es wieder dasselbe Spiel: Security, Autogramme, Geld. Darauf hab ich wieder mein Messer rausgeholt, es ihm an den Hals gehalten und es hat geklappt. Mein Sohn war inzwischen schon älter, mitten im Abitur, er musste eine Erörterung schreiben mit dem Thema Todesstrafe - ja oder nein?. Da dachte ich, das müsste der Grisham gut können, er war einverstanden, er hat den Aufsatz übrigens auch freiwillig geschrieben, ganz ohne Messer, auch mit einem besseren Ergebnis: Der Deutschlehrer von Tom (das ist mein Sohn, der Deutschlehrer heißt anders) hat ihm eine Drei gegeben. Hat aber ziemlich lange gedauert, bis der berühmte Thrillerautor die paar Seiten fertig gehabt hat, die ganze Nacht lang hat er immer wieder was umgeschrieben, immer wieder was verbessert. Er wollte aber den vorgegebenen Titel nicht nehmen, er sagte, Die Zelle wäre wesentlich knackiger (»that grips well«). Aber es ist trotzdem nur eine Drei draus geworden. Aber besser als eine Sechs wie bei Grass. Wenn man aber einmal einen Nobelpreisträger unterm Messer gehabt hat, will man noch einen Nobelpreisträger. Ich bin zu Elfriede Jelinek gefahren. Das Anstalken war übrigens überraschend leicht bei ihr, sie hat mich sogar reingebeten und gesagt, endlich sind Sie da! Ich hab schon gehört, hat sie gesagt, dass einer in der Literaturszene unterwegs ist und die Kollegen Geschichten schreiben lässt. Aber wo haben s denn das Messerl? Ich besteh auf ein Messerl, hat sie gesagt. Die Elfriede Jelinek war überhaupt sehr redselig und hat mir anvertraut, dass sie selber oft nicht schreiben kann, ohne dass nicht ein scharfes Messerl, eine Rasierklinge oder wenigstens ein Strickerl auf dem Tisch liegt. Und sie hat dann eine Geschichte geschrieben, die ich aber nicht verstanden habe. (Da sehen Sie es, sagt der Messermann. Er sticht aber jetzt manchmal schon sehr tief, spielerisch ist das nicht mehr.) Übrigens, weil ich vorher von meinem Sohn Tom erzählt habe, ich hatte früher auch eine Ehefrau und eine glückliche Ehe, ich bin nebenbei noch gestalkt, natürlich nur bei anderen Menschen, nie bei der eigenen Frau. Ich finde, es gehört zu einer glücklichen Ehe, dass man sich gegenseitig nicht so gut kennt. Ich war oft dran, auch bei ihr zu stalken, aber ich habs nie gemacht. Irgendwann fand ich, dass es an der Zeit wäre, es ihr zu sagen, was ich da so für ein Hobby betreibe. Ich habe bis dahin immer ein anderes Hobby vorgeschoben, das aber jetzt nichts zur Sache tut. Ich hab dann gesagt, du, ich muss mal mit dir reden, ich muss dir was sagen. Und sie sagt, ja was ist denn? Und dann hab ich ihr erzählt, was ich mache und dass ich am letzten Wochenende nicht mit dem Wanderclub unterwegs war, sondern bei Boris Jelzin, oder jedenfalls sehr nahe bei Jelzin. Ich muss hier vielleicht noch einmal unterbrechen und ein Wort zu den Politikern sagen, die habe ich selten aufgesucht, hier waren die Ergebnisse enttäuschend, man kommt ganz schwer an sie ran, was zwar noch einen gewissen sportlichen Ehrgeiz befriedigt, aber wenn man sie dann vor sich hat, bringen sie eigentlich nichts. Ich beherrsche natürlich auch kein Russisch und so habe ich Jelzin damals bloß zwingen können, mit mir einen Wodka zu trinken. Das habe ich meiner Frau erzählt, das enttäuschende Treffen mit Boris Jelzin. Wenn ich von einer heimlichen Geliebten erzählt hätte, wäre sie nicht so ausgerastet. Sie hat sich dann von mir getrennt, wir sind geschieden. Das war irgendwie grotesk: In einer Situation, wo andere Leute normalerweise mit dem stalking anfangen und die Exfrau mit Telefonterror, Auflauern, Pizzabestellungen und so weiter überziehen, habe ich gar nichts gemacht. Dabei hätte sie mit mir den besten Stalker der Welt gehabt - autsch, jetzt tuts langsam weh! (Das war ein Versehen, sagt der mit dem Messer, ich soll weiterschreiben.) Viel ist aber nicht mehr zu schreiben, ich habe Ihnen mein Leben erzählt, ich darf ja jetzt nicht verraten, wer mir momentan das Messer an die Schlagader hält, das will er nicht, klar, aber so viel darf ich schreiben, dass das ein ganz berühmter, hochrangiger Schriftsteller ist, der aber seine besten Zeiten schon hinter sich hat. (Darf ich so direkt sein, lieber Messermann? Ja, sagt er, das ist ja gerade das Echte, das Böse, der Abstieg, der Verfall, das ist authentisch.) Er ist schon alt, mein Messerheld, und er ist aus einer Zeit, wo man noch schön und kunstvoll geschrieben hat, mit blumigen Ausdrücken und komplizierten Vergleichen. Mit vielen Nebensätzen und voller Wehmut. Das ist jetzt alles nicht mehr gefragt, sondern so ein subjektiver unverblümter Schreibstil. Hart. Direkt. Ein Stalkerleben, verrückt und schnell. Ehe kaputt. Trotzdem schön. (Mein Messermann ist begeistert! So was könnte er nie, sagt. Ich bin stolz.) Also, er hat jetzt aber mit seinem altmodischen Stil schon lange keine Preise mehr gewonnen und ist schon lange zu keiner Lesung mehr eingeladen worden. Die Verlage wollen ihn auch nicht mehr so recht drucken, außer wenn er seinen Stil ändern würde und so hart, so direkt, so wie ich schreiben würde. Deswegen käme ich wie gerufen. Ich hatte mich vor einer Stunde gerade reingeschlichen, wieder mal zu einer offenen Terrassentür, und da hat er mir einfach das Messer aus der Hand genommen und es an meine Kehle gesetzt. Einfach den Spieß umgedreht! Es muss sich in Literatenkreisen rumgesprochen haben, dass da ein Stalker rumgeht, einer, der im Laufe der Jahre viele, viele Geschichten gesammelt hat. So, jetzt schreiben Sie selber mal eine, hat er gesagt. Was blieb mir übrig, hab ich mich halt hingesetzt und geschrieben. Für einen Literaturwettbewerb, sagt er. Wollen Sie das mit der Authentizität jetzt wirklich so weit treiben, lieber alter Messermann, dass Sie mich danach erstechen? Er lächelt bloß. Er drückt fester zu. Aber ich kann doch, sage ich, für Sie noch viele weitere authentische, gehetzte Geschichten schreiben! Eine genügt mir, sagt der Messermann und tr
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Fischer Taschenbuch Verlags.
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