Der Delta-Stern

  • Heyne
  • Erschienen: Januar 1988
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  • New York: W. Morrow, 1983, Titel: 'The Delta Star', Seiten: 276, Originalsprache
  • Bayreuth: Hestia, 1984, Seiten: 331, Übersetzt: Inge & Friedhelm Werremeier
  • München: Heyne, 1988, Seiten: 331
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Michael Drewniok
85°1001

Krimi-Couch Rezension vonApr 2023

Alltäglicher Wahnsinn im Dienst einer undankbaren Gesellschaft

Für den Westen der Downtown Los Angeles ist seit 1966 die Rampart-Division des LA Police Department zuständig. Die Metropole ist - zumindest aus Sicht des Polizisten von der Straße - ein wahrer Hexenkessel und eine Brutstätte des Verbrechens, wobei „brutal“ und „bizarr“ zu üblichen Adjektiven geworden sind, wenn die Taten beschrieben werden sollen.

Der alltägliche Wahnsinn hat die Beamten gezeichnet. Was sie während ihrer Schichten erleben, beschäftigt und frisst sie manchmal auf. Da die Nutzung psychologischer Unterstützung als Schwäche gesehen wird und sich womöglich hinderlich auf die Dienstbeurteilung niederschlägt, greift man zur Selbsthilfe und trifft sich in Leerys Saloon, dem „Haus des Jammers“. Dort reden die Polizistinnen und Polizisten sich von der Seele, was sie bedrückt, und betrinken sich, bevor sie auf die Straße und zu neuem Horror zurückkehren.

Mario Villalobos ist mit 42 Jahren ausgebrannt und Mitglied der gar nicht fröhlichen Runde. Sein aktueller Fall lässt seinen Ermittlungsdrang aufleben: Vom Flachdach des „Wonderland Hotels“ wurde die Prostituierte „Missy Moonbeam“ in den Tod gestoßen. Die Hinweise sind rar, doch Villalobos Eifer wächst, als er auf eine weitere Leiche stößt sowie feststellt, dass Missys Mörder offenbar seine Spur verwischt und noch nicht fertig ist mit dem gewalttätigen ‚Aufräumen‘.

Die Kollegen sind keine Hilfe, aber was kann man von Polizisten wie dem „Schrecklichen Tschechen“, „Runzel-Ronald“ oder Hans und seinem trunkenboldigen Dobermann Ludwig erwarten, zumal die Spur ausgerechnet dorthin führt, wo gerade über die Verleihung des Nobelpreises beraten wird …?

Wandel als Überforderung

Joseph Wambaugh ist ein Bestseller-Autor, der so heutzutage wohl nicht mehr möglich wäre. In den frühen 1970er Jahren war ihm der Erfolg quasi sicher, denn er konnte nicht nur schreiben, sondern hatte sich mit sicherem Gespür ein Umfeld ausgesucht, in dem er sich bestens auskannte: Wambaugh schrieb über den Alltag US-amerikanischer Polizisten. Anderthalb Jahrzehnte hatte er selbst als solcher gearbeitet und wusste Bescheid - nicht nur über Arbeitsroutinen, sondern auch über die Probleme, die dieser Job mit sich brachte.

Der Polizei-Alltag ist reich an Schwierigkeiten und Schrecken. Nie sind Öffentlichkeit, Politiker und Medien zufrieden. Kritik ist allgegenwärtig: Die Polizisten gehen zu lasch vor oder sind Rassisten, die Minderheiten schurigeln und zusammenknüppeln; ihre Erfolgsbilanz gilt stets als mäßig, sie sind in einem fragwürdigen Kodex gefangen sowie generell unfähig und unwillig, sich den Erfordernissen einer modernen, sich ändernden Gesellschaft anzupassen.

Das Ergebnis ist - jedenfalls aus Wambaughs Sicht - ein Arbeitsdasein, der in einem Tollhaus stattfindet. Ständig werden die Beamten von ihrer eigentlichen Tätigkeit - der Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung - ferngehalten, weil sich von „oben“ ein wahres Füllhorn immer neuer, sich widersprechender, mit der Realität nicht vereinbarer Anordnungen über sie ergießt. Hinzu kommt die Aufmerksamkeit der Medien, die in den ständigen Fehlern der Polizei eine dankbare Quelle entsprechender Sensationsartikel gefunden hat.

Längst über die Klippe hinaus

Das Ergebnis ist eine elementare, kollektive Unsicherheit: Die Polizisten fühlen sich alleingelassen in ihrem Druck, der mit der Forderung ‚korrekt‘ zu handeln, jederzeit kollidiert. Sei professionell, d. h. freundlich, aber trotzdem bestimmt zu allen Bürgern, lautet die Devise, doch aus Polizistensicht sieht die Realität anders aus. Sie folgen weiterhin ihren Feindbildern und sind chronisch misstrauisch gegenüber Minderheiten, die sie ungeachtet des offiziell propagierten Weltbilds als Primärzellen des Verbrechens betrachten.

Der Widerspruch zwischen empfundener Realität und „politisch korrekter“ Wunschwelt überfordert diese Polizisten. Sie sind ohnehin am Limit, weil es nie genug Ressourcen gibt. Stattdessen laufen sie hinter einem längst außer Kontrolle geratenen Wahnsinn hinterher und sammeln dessen Opfer ein. Unterstützung und Dankbarkeit können sie nicht erwarten. Fragwürdigen Halt finden Polizisten nur untereinander. So landen sie zwangsläufig in Leerys Saloon, wo unter sich sind, sich ihre Herzen ausschütten sowie Trost und Vergessen im Alkohol suchen.

Dass dies eine Sackgasse ist, verdeutlicht Wambaugh u. a. am Beispiel des „Rausgeschossenen Sittencops“, der - so wird nach und nach deutlich - wohl einen unbewaffneten Verdächtigen erschossen hat und daran zerbricht. Wambaugh achtet darauf, dass der tragische Unterton deutlich wird, auch wenn er groteske, völlig übertriebene Szenen inszeniert. Sie sollen nicht ‚nur‘ unterhalten, sondern den alltäglichen Wahnsinn widerspiegeln, der die Protagonisten heimsucht.

Nur Funken von Hoffnung

Mario Villalobos ist die Hauptfigur dieses Romans. Als solche reiht er sich in die Schar der Verlorenen ein, die allnächtlich in Leerys Salons enden. Villalobos ist der reinste Schmerzensmann: zweifach geschieden, von seinen Kindern ignoriert oder gehasst, von Unterhaltszahlungen ausgesaugt und in einer miesen Wohnung hausend, dazu in einer Lebensmittelkrise gefangen, frustriert, deprimiert, ständig erschöpft und nur noch Polizist, weil er nichts anderes gelernt hat.

Rettung ist möglich, denn Villalobos übernimmt einen Routinefall, der plötzlich jene Dimension gewinnt, die sein Ermittlerinteresse zurückkehren lässt. „Der Delta-Stern“ kreist lange nur um einen Plot, der erst im letzten Viertel dieses Buches an Relevanz gewinnt. Dass Villalobos den kruden, vom Verfasser dennoch plausibel aufgedröselten Fall lösen kann, hilft ihm aus der verhängnisvollen Abwärtsspirale hinaus, in der die Kolleginnen und Kollegen zurückbleiben.

Den Irrsinn einer von der Vernunft abgekoppelten Realität beschreibt Wambaugh in zahllosen Episoden. Eine Galerie prägnanter Nebenfiguren bleibt im Gedächtnis haften. Manchmal erfahren wir nicht einmal ihre Namen; der „Schreckliche Tscheche“ ist längst kein Individuum mehr, sondern nur noch die Personifikation eines aus dem Ruder gelaufenen Daseins. Einmal verirrt sich eine Gruppe junger Studenten in Leerys Saloon. Die Anwesenden beäugen sie scheu und bedrückt; die Fröhlichkeit dieser Männer und Frauen erinnert sie an jene Leichtigkeit, die sie angesichts oft schauriger Erfahrungen verloren haben.

Das Verhängnis des deutlichen Wortes

Was einst sensationell war und Wambaugh zum „Spannungsautor Nr. 1 in Amerika“ aufwertete (wie auf dem Cover behauptet wird), dürfte heute mit ein Grund sein, wieso seine Romane zumindest in Deutschland nicht mehr aufgelegt werden. Die unbedingte Parteilichkeit zugunsten der Polizei ist in dieser Deutlichkeit problematisch. Gerade das Los Angeles Police Department stand im Zentrum zahlreicher Skandale. Diese betrafen auch das rabiate Vorgehen der Beamten, das sich primär und oft tödlich gegen Schwarze u. a. ‚Minderheiten‘ richtete, die aus Polizeisicht schon aufgrund ihrer Herkunft verdächtig waren - eine Haltung, die Wambaugh in diesem Buch durchaus teilt.

Zwar differenziert er, weist aber die Schuld an Rassismus, Elend und Verbrechen einer überforderten und gleichgültigen Politik und der Justiz zu. Die Polizei nimmt Wambaugh ausdrücklich aus. Er betrachtet sie ebenfalls als Opfer. Auch wenn er Kritik zulässt und beispielsweise die weiblichen Beamten klagen lässt, welchen Vorurteilen und Schikanen sie in einem weiterhin maskulin geprägten Berufsmilieu ausgesetzt sind, verschwimmen Abstumpfung und Frustration nahtlos mit Szenen, die unterstreichen, dass es eben doch „Nigger“ oder „Tunten“ sind, unter denen das Verbrechen grassiert.

Schon die Häufung dieser und anderer heute geächteten Bezeichnungen dürfte ‚sensible‘ Leser abschrecken. Das ist schade, denn es entwertet eine in ihrer überspitzten Wucht prägnante Darstellung. Wambaugh mag ‚seine‘ Polizisten zu unkritisch lieben, doch das ändert nichts an der Eindringlichkeit der Handlung. Diese mag der Krimi-Purist als Reihung seltsamer, makabrer, geschmackloser Episoden betrachten. Tatsächlich ist „Der Delta-Stern“ ein manchmal erstickend dichtes Gewebe aus (An-) Klage und Warnung: Jede Gesellschaft bekommt die Polizei, die sie verantwortet. Die gestörten Männer und Frauen der Rampart-Division sind die Produkte ihrer Welt. Unter diesem Blickwinkel hat „Der Delta-Stern“ weder an Relevanz noch an Unterhaltungswert eingebüßt.

Fazit

Den Wahnwitz eines Polizeialltags, der dem Dienst an der Pforten der Hölle gleicht, konnte einst niemand eindringlicher als Joseph Wambaugh in Worte fassen, die auch heute noch ihre Wirkung entfalten, obwohl der Autor kompromisslos die Partei ‚seiner‘ Polizei ergreift und heute manche Leser vor die Köpfe stoßen dürfte.

Der Delta-Stern

Joseph Wambaugh, Heyne

Der Delta-Stern

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