Totenstarre
- Limes
- Erschienen: Januar 2005
- 32
- New York: Hyperion, 2004, Titel: 'The Bone Parade', Seiten: 324, Originalsprache
- München: Limes, 2005, Seiten: 416, Übersetzt: Fred Kinzel
- München: Blanvalet, 2007, Seiten: 431
Familienplanung auf Amerikanisch
Das Beste am Buch vorweg: Man kann sich darauf beschränken, nur die Kapitel mit geraden Kapitelnummern zu lesen. Dann hat man einen durchschnittlichen Thriller amerikanischer Machart mit einer abgeschlossenen Handlung, der einfach gestrickt ist und leidlich spannend unterhält.
Die ungeraden Kapitel jedoch lassen Fans von Slaughter, Hayder & Co. jubeln, bringen sie doch Niedertracht und Grausamkeit in ungeahntem Ausmaß hervor. Denn diese Kapitel werden erzählt aus der Sicht von Ashley Stassler, einem (seiner eigenen Meinung nach) genialen Bildhauer, dessen Verständnis von Kunst darin besteht, menschliche Angst auf ihrem Höhepunkt darzustellen. Unter dem Titel "Family Planning #1 - #8" hat er bereits Skulpturen erschaffen, die die Fachwelt ob ihrer realistischen Darstellung beeindruckten. Die Schaffung von "Family Planning #9" kann der Leser detailliert miterleben. Dazu entführt Stassler eine komplette Familie aus ihrem Haus und hält sie im versteckten Keller seiner abgelegenen Farm in Utah in einem Käfig gefangen. Über Wochen schürt er deren Angst, um dann auf deren Höhepunkt, im Akt ihrer von Stassler detailvoll zelebrierten Ermordung, plastische Abdrücke von ihren Körpern zu schaffen.
Wie diese ungeraden Kapitel aus Sicht von Ashley Stassler erzählt werden, lässt den Leser als Voyeur dastehen. Soll man dem Treiben weiter zuschauen? Wie der Kinozuschauer, der nur durch die Finger linst, liest man immer weiter - oder man lässt es bleiben. Der Grausamkeiten gewohnte Leser blutrünstiger Thriller mag sagen, ist doch gar nicht so schlimm, es fließt ja kaum Blut, doch was Mark Nykanen hier bietet, ist an Menschenverachtung kaum zu übertreffen. Man hat den Eindruck, als versuche der Autor das Splatter- und Porno-Genre, in dem ein Bret Easton Ellis mit seinem "American Psycho" es zu Weltruhm brachte, zu adaptieren. Er scheitert dabei jedoch daran, dass er beim Leser mit seinen sprachlichen Mitteln wenig Begeisterung wecken kann.
Der Rest der Story ist simpel und - wie man am Klappentext erkennt, der fast die gesamte Handlung des Buches zusammenfasst - schnell erzählt. Protagonistin der zwischen den bestialischen Kapiteln geschilderten Handlung ist Lauren Reed, ebenfalls Bildhauerin und Kunstprofessorin. Eine ihrer hoffnungsvollsten Schülerinnen, Kerry, hat einen Praktikumsplatz bei Stassler, von dessen Kunst Lauren nicht viel hält, bekommen. Warum sie ihre Studentin mit einem Empfehlungsschreiben zu dem doch so uninspirierten Bildhauer schickt, bleibt ein Rätsel. Warum Stassler das Risiko eingeht, eine neugierige Studentin auf seine so einsame Ranch einzuladen, ebenfalls. Kerry entdeckt durch Zufall Stasslers Geheimnis und wird selber gefangen genommen. Durch das spurlose Verschwinden ihrer Studentin wird Lauren zusammen mit ihrem neuen Freund Ry nach Utah gelockt (man sucht natürlich lieber selbst nach der Vermissten, da die Polizei so etwas ja überhaupt nicht beherrscht) und gerät dabei, wie sollte es auch anders sein, in höchste Gefahr. "Gewürzt" sind diese Abschnitte aus Sicht von Lauren und Ry mit einer großen Portion Sex, die so leidenschaftslos geschildert wirkt wie ein geplatzter Eidotter auf einem Spiegelei.
Was dann folgt, ist der Versuch Action-Kino krampfhaft in Textform zu pressen: eine leidlich spannende Verfolgungsjagd durch die Wüste, bei der die Beteiligten ans Ende ihrer Kräfte geraten und einen Showdown vor Unwetterkulisse, der es noch mal so richtig krachen lässt.
Was kann man sonst noch Positives zu dem Buch sagen? Die Beschreibung über Bronzeguss war hochinteressant und beeindruckend. Wer also schon immer mal etwas über Bronzeguss in einem Thriller lesen wollte, wird hier reichlich fündig. Die Idee des Autors, durch abwechselnde Perspektiven zwei in sich geschlossene Handlungen zu schaffen ist ebenfalls nicht zu verachten, wenn auch die Übergänge nicht immer so ganz stimmig geraten sind.
Die Bewertung von 35 Grad gilt für die Hälfte des Buches, für die geraden Kapitelnummern, die von einem übergeordneten Erzähler geschildert werden. Beim Rest des Buches aber fragen sich die Rezensenten, ob solche Zeilen denn wirklich gedruckt werden müssen, oder ob man ihnen überhaupt einen literarischen Wert zusprechen darf. Der Bedarf dafür scheint da zu sein, sonst würden nicht Krimiautoren in aller Welt versuchen, sich gegenseitig an Gewalttaten und Perversitäten zu übertreffen
Mark Nykanen, Limes
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