Colorado Kid
- Ullstein
- Erschienen: Januar 2006
- 11
- New York: Dorchester, 2005, Titel: 'The Colorado Kid', Seiten: 184, Originalsprache
- Berlin: Ullstein, 2006, Seiten: 159, Übersetzt: Andrea Fischer
- München: Heyne, 2009, Seiten: 159
Für Stephen King eine untypische Langeweile und Ziellosigkeit
Moose-Lookit ist ein kleine Insel vor der Küste des US-Staates Maine. Die wenigen Bewohner leben vom Sommertourismus, ansonsten bleibt man unter sich. Über die Ereignisse des Insellebens informiert seit einem halben Jahrhundert der "Weekly Islander”, der vom neunzigjährigen Vince Teague und seinem Partner Dave Bowie herausgegeben wird. In diesem Sommer gesellt sich ihnen die 22-jährige Praktikantin Stephanie McCann hinzu. Die junge Frau kommt gut mit den beiden alten Männern klar und zeigt als Journalistin echtes Talent.
Eines Tages hört Stephanie vom "Colorado Kid”. Als sie neugierig nachfragt, erzählen ihr Teague und Bowie vom größten ungelösten Rätsel ihrer langen Laufbahn. 25 Jahre zuvor hatte man am Strand die gut gekleidete Leiche eines unbekannten Mannes gefunden, der offenbar an einem Stück Steakfleisch erstickt war. Er trug keine Papier bei sich, es gab keine Anzeichen für ein Verbrechen. Die Nachforschungen der Polizei blieben erfolglos, die Leiche ohne Identität, bis mehr als ein Jahr später zufällig Name und Herkunft des Mannes entdeckt wurden: Von seinem Arbeitsplatz im US-Staat Colorado war der Zeichner James Cogan eines Tages plötzlich verschwunden, hatte seine Familie verlassen und war auf unbekannte Weise und in Rekordzeit nach Maine gereist, wo er am Strand von Moose-Lookit gestorben war.
Oder hatte man ihn ermordet? Die Indizien ließen sich in dieser Richtung deuten aber bestätigen konnten Teague und Bowie diesen Verdacht nie. Ein Vierteljahrhundert später diskutieren sie den Fall Cogan mit Stephanie McCann und ordnen die Fakten neu, um der Kollegin eine wertvolle Lektion über den Journalistenberuf zu erteilen ...
Geliebter Schund - Versuch einer Wiederbelebung
Seltsame Ideen sind keine seltene Erscheinung auf dem modernen Buchmarkt, gilt es doch ein Medium lukrativ zu halten, das im digitalen Zeitalter ein wenig altmodisch geworden ist. Immer gern gedrückt wird die Nostalgie-Taste, denn früher war bekanntlich alles besser, auch die Kriminalromane. In unserem Fall sollte die Erinnerung an die "Pulps" der 1940er und 50er Jahre geweckt werden - billig hergestellte, mit grellen Umschlägen versehene Krimireißer voller Sex & Gewalt, die oft von den Großen des Genres in Rekordzeit in die Tasten (damals noch von Schreibmaschinen) gehauen wurden. Nicht selten verbargen sich in diesem Ghetto des Schrillen und Brutalen echte Klassiker, denen die Eile gut bekam, die ihre Verfasser an den Tag legen mussten in einer Zeit, als nur Cents pro Wort gezahlt wurden.
Diese "Pulp"-Tradition soll mehr als ein halbes Jahrhundert später in der Reihe "Hard Case Crime" wiederbelebt (exhumiert?) werden. Mehr oder weniger bekannte Autoren schreiben neue Thriller der alten Art, die mit Titelbildern im plakativen Stil versehen und als Taschenbücher preisgünstig auf den Markt geworden werden. Auch Stephen King, der stets bestrebt ist, Marktnischen auszuloten, ließ sich anheuern. Mit "The Colorado Kid" steuerte er im Oktober 2005 den 13. Band zur Serie bei.
Abergläubische Zeitgenossen könnten darauf hinweisen, dass dieses Experiment aufgrund der Unglückszahl scheitern musste. Das wäre freilich auch die Antwort eines verzweifelten King-Fans, für den der Meister einfach nichts falsch machen kann. Aber er kann und er hat es hier eindrucksvoll - und glücklicherweise seitenschwach - unter Beweis gestellt.
Mr. King philosophiert über das Rätsel
"Colorado Kid" wird von King nicht als "hard boiled thriller" angelegt, sondern ist eher ein philosophischer Exkurs über das Wesen des (journalistisch aufbereiteten) Rätsels. Drei Menschen unterhalten sich über einen Vorfall, der sich vor langer Zeit ereignete und ungeklärt blieb. Wie in einem "richtigen" Krimi werden Tatort, Indizien und Verdächtige präsentiert. Doch eine Auflösung bleibt aus. Wie so oft im realen Leben gibt es zu wenige Faktenteile, um das Puzzle zu vervollständigen. Stephanie McCann hat begriffen, was ihre Mentoren sie eigentlich lehren wollten: Ein Rätsel ohne Zugang ergibt keine Geschichte, sondern schafft nur Verdruss und sollte deshalb ungeschrieben bleiben. Ansonsten bleibt sie ebenso unzufrieden zurück wie der Leser.
Zu Kings Pech trifft Teagues & Bowies Lehrsatz auf auch "Colorado Kid" voll und ganz zu. Selten ziehen sich knapp 160 großzügig bedruckte Seiten so hin wie hier. Man kann und mag nicht glauben, dass wirklich Stephen King dieses Stückchen Nicht-Unterhaltung zu Papier gebracht hat. Nach 1000-seitigen Geschichten vom "Dunklen Turm" scheint er mit der kurzen Form Schwierigkeiten zu haben. Er legt "Colorado Kid" wie einen seiner epischen Romane an. Zwei Drittel des Buches sind bereits gelesen und wir befinden uns immer noch in der Einleitung - dem durchaus gelungenen Stimmungsbild einer von der Zeit ein wenig vergessenen Maine-Insel und ihrer angenehm kauzigen Bewohner. Erst dann scheint King einzufallen, dass er ja eine Geschichte zu erzählen hat - nur dass da wie gesagt keine Geschichte ist. Diesen Widerspruch spannend aufzulösen ist ihm gänzlich misslungen.
Ein Krimi, der ganz sicher keiner ist
Auf der anderen Seite ist "Colorado Kid" nicht schlecht geschrieben. King, der geborene Geschichtenerzähler, der sich erfolgreich auch jenseits der Phantastik tummelt, hat nach wie vor ein Schreibhändchen für Figuren, die vor dem geistigen Auge Gestalt annehmen. Das ist eine echte Gabe, zumal sich die "Handlung" in diesem Büchlein auf ein Gespräch zwischen drei Personen beschränkt. Was sich ereignet hat wird nur erzählt und das nicht am Stück. Immer wieder unterbrechen Dialoge die Rückblenden ins Jahr 1980, dazu kommen Sprünge, wie sie für eine Unterhaltung typisch sind.
Dennoch ist King die schwierige Aufgabe gelungen, zwischen zwei alten Männern und einer jungen Frau eine besondere, von anzüglichen Untertönen völlig freie Beziehung zu schaffen. Hier diskutieren drei Profis, die sich miteinander wohl fühlen. Als "vierte Person" tritt Moose-Lookit dazu, die kleine Insel, die auf jene, die für ihr Flair anfällig sind, eine eigenartige Anziehungskraft ausübt. James Cogan musste, Stephanie McCann darf es erfahren, denn im Verlauf der Geschichte schält sich allmählich heraus, dass sie auf Moose-Lockit "hängen bleiben” und als Journalistin arbeiten wird.
Solche literarischen Kabinettstücken reichen unterm Strich aber nicht aus. "Colorado Kid" bleibt eine langweilige, überflüssige Angelegenheit. Der Name "Stephen King" ist es, der dieses Büchlein verkaufen wird. Dessen Preis ist niedrig aber für das Gebotene trotzdem zu hoch, "Colorado Kid" weniger eine Weihnachtsüberraschung als ein Windei, das sich nur der King-Komplettist ins Nest legen lassen sollte.
Stephen King, Ullstein
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