Die Eismumie
- Rowohlt
- Erschienen: Januar 2005
- 20
- Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2005, Seiten: 413, Übersetzt: Teja Schwaner
- Augsburg: Weltbild, 2006, Seiten: 412
- Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2007, Seiten: 412
Klischee ist, wenn es trotzdem kracht
FBI-Profiler Ulysses Grove ist am Ende seiner Kräfte angelangt. Seit Monaten hält ihn der "Sun-City-Killer” in Atem, der durch die USA geistert und anscheinend wahllos Menschen als Opfer wählt, die er mit einem Pfeilschuss in den Nacken tötet. Anschließend bahrt er die Leichname sorgfältig auf und arrangiert ihre Arme in einer typischen Geste, die zu enträtseln dem Fachmann einfach nicht gelingt.
Schließlich bricht Grove zusammen und wird von seinem besorgten Chef in einen "Arbeitsurlaub” geschickt: Im fernen Alaska fanden zwei Touristen im tauenden Eis eines Gletschers die Mumie eines vor 6.000 Jahren umgekommenen Mannes. Die Archäologen der University of Alaska sind in heller Aufregung, zumal bald entdeckt wird, dass der Tote aus dem Eis einem Verbrechen zum Opfer fiel.
Mord in der Steinzeit! Auch die Presse horcht auf. Maura County vom recht renommierten "Discovery Magazine” kann sich die Story sichern. Sie ist es, die den Wissenschaftlern rät, sich der Hilfe eines Kriminologen zu sichern. Eher widerwillig fügt sich Groves in diese Rolle. Er fühlt sich zu Recht abgeschoben und will an "seinen” Fall zurück. Eine bizarre Laune des Schicksals eröffnet ihm diese Möglichkeit: Der Steinzeitmensch, "Keanu” genannt, zeigt exakt dieselben Verletzungen wie die Opfer des "Sun-City-Killers”! Da Groves nicht an Geister glaubt, denkt er sofort an einen Nachahmungstäter. Ermittlungen ergeben, dass es am Fundort der Mumie zu einem Zwischenfall kam: Richard Ackerman, einer der beiden Finder, zeigte Anzeichen einer geistigen Verwirrung und verschwand wenig später spurlos.
Das ist der Killer, da ist sich Groves sicher. Allerdings haben sich inzwischen Archäologen aus aller Welt gemeldet: An zahlreichen Stellen dieser Erde hat man in den letzten Jahrzehnten Mumien und Skelette mit den Malen des "Sun-City-Killers” gefunden. Da gibt es offenbar einen noch unbekannten Faktor, der Vergangenheit und Gegenwart eng miteinander verknüpft. Ackerman weiß Bescheid, doch er spricht nicht, denn in seinem Kopf haust ein uraltes Wesen, das die Menschen seit Jahrtausenden jagt und gerade sein aktuelles Opfer ins Visier nimmt: Ulysses Groves ...
Ein Thriller für das 21. Jahrhundert?
Wenn das Ötzi, unser Eismann aus den Tiroler Alpen, gewusst hätte ... Viele Jahre nach seinem traurigen Tod irgendwo auf einem öden Berg dient er einem fleißigen Unterhaltungsfabrikanten als Katalysator für einen schrillen Gruselthriller gerade aktuellen Strickmusters. Vor allem Dan Brown hat es vorgeführt, wie effektiv und publikumswirksam sich das Räuber-und-Gendarm-Spiel des guten, alten Krimis mit der Phantastik mischen lässt.
Die Parallelen zum modernen Medienphänomen Brown reichen sogar noch weiter: Auch Jay Bonansinga ist ein furchtbarer Möchtegern-Literat, der weder für das eine noch das andere Genre irgendein Gespür zeigt. Was ein Profiler macht, lässt sich recherchieren; es geht aber auch einfacher, indem man sich beispielsweise ein, zwei Folgen einer beliebigen "C.S.I.”-Serie anschaut. Bei weiterer Betätigung der Fernbedienung stößt man sicherlich auf einen Sender, der einen 08/15-Horrorstreifen ausstrahlt - so bringt man gleich noch in Erfahrung, was Dämonen im Allgemeinen treiben (Metzeln, Verfolgen hübscher Frauen, Anstreben der Weltherrschaft). Mr. Bonansinga hat darüber hinaus wohl auch noch den "Discovery-Channel” auf seinem Programm und ist vermutlich dort über besagten Ötzi gestolpert.
Stoff genug für einen erfahrenen Handwerker der Unterhaltungsindustrie - Bonansinga ist Schriftsteller, Drehbuchautor, Produzent, Regisseur usw. -, der daraus einen Bestseller-Blockbuster zu zimmern weiß. Das Betrübliche daran ist, dass die Rechnung mit einiger Sicherheit aufgehen wird: "Die Eismumie” ist das Produkt einer gelungenen Suche nach dem größten gemeinsamen Nenner, d. h. ein Roman, der von möglichst vielen Menschen, die irgendwie ein paar Stunden totschlagen wollen, gelesen bzw. gekauft werden soll.
In dieser Hinsicht muss man dem Verfasser zugeben solide Arbeit geleistet zu haben: Ist man abgelenkt - beispielsweise durch eine haltestellenreiche Bahnfahrt, einen holprigen Flug, eine Blinddarmoperation - und möchte dennoch lesen, ist "Die Eismumie” zweifellos die richtige Lektürewahl. Eine Handlungsfaden, den man aus tausend Büchern & Filmen kennt, wird man zweifellos nicht verlieren und sollte man zwischen einigen Seiten einschlafen bzw. abstürzen bzw. ohnmächtig werden, fällt es nach dem eventuellen Aufwachen leicht den Anschluss an das Buchgeschehen zu finden.
Mordlüsterner Geist aus Mumienschädel
Wer einen mordlüsternen Geist aus einem Mumienschädel springen lässt, muss offensichtlich keine Zeit damit verlieren originelle Protagonisten auftreten zu lassen - mit diesem Gedanken ist Autor Bonansinga vermutlich an die Figurenzeichnung herangegangen. Hinzu kommt eine Menge Hollywood-Erfahrung, die ihn lehrte Mehrschichtigkeit zu Gunsten von Handlungsgeschwindigkeit unter den Tisch fallen zu lassen. Das Ergebnis ist wie schon mehrfach erwähnt ein Reißbrett-Thriller wie aus einer Fernschule für Nachwuchsautoren. ("Beachten Sie folgende drei Regeln und verfassen Sie Bestseller!”)
Also finden wir hier versammelt:
- den redlichen FBI-Mann als Helden, der sich in seinem Job aufreibt, der früh verstorbenen Gattin trauervoll die Treue hält und mit den Windmühlen skeptischer Vorgesetzter und Kollegen sowie einer lästig liebevollen Mutter zu kämpfen hat;
- die tüchtige, hübsche Wissenschaftlerin als Heldin, die insgeheim Frau geblieben ist und sich nach Mr. Right verzehrt, der - wer hätte es gedacht - wie der redliche FBI-Mann aussieht;
- den weniger redlichen FBI-Kollegen, der mehr an seine Karriere als daran denkt, was doch seinen Job ausmachen soll - die Suche nach bösen Wichten, um brave Mitbürger zu schützen - und der dafür die Quittung erhält, was dem Helden die Gelegenheit gibt Racheschwüre zu äußern und seine für die Handlung jetzt lästige Zurückhaltung sowie das Festhalten an Recht & Gesetz abzulegen.
Daneben gibt es allerlei austauschbare Polizisten und FBI-Agenten, verschrobene Wissenschaftler, einen Ex-Exorzisten aus dem Vatikan (Kein Gruselpulp geht ohne ihn) sowie ahnungslose Joes & Janes aus US-Amerikas Unter- und Mittelschicht, die als Geisterfutter herzuhalten haben.
Warum "böse" und "blöde" so ähnlich klingen ...
Bleibt noch der "Sun-City-Killer” selbst, das personifizierte Böse aus dem Urschleim, seit Jahrtausenden von Kopf zu Kopf springend und eifrig Menschen schlachtend. Dafür gibt es sogar ein Motiv, das hier jedoch verschwiegen werden soll; schließlich ist der vermutlich einzige Grund, die Lektüre nicht vor Seite 200 einzustellen, die verzweifelte Frage: Worum dreht sich der ganze faule Zauber eigentlich?
Die Geduld des Lesers wird indes auch nach der Lüftung des Geheimnisses auf eine harte Probe gestellt, denn der Killer bleibt ein uninteressantes Es, das sich weiterhin nur in Gewalt- und Blutorgien manifestiert. Aber das ist seine Aufgabe; Autor Bonansinga plante nie die Schöpfung eines Bösewichts, der für sich einnehmen kann. Das Mumienmonster soll schlicht morden und schließlich das Ende der Handlungskette - die hier von Punkt A nach B reicht ... - erreichen: den Finalkampf mit dem Helden, der bisher selbstverständlich nicht grundlos von eigentümlichen Visionen geplagt wurde und sich dem Killer unsichtbar verbunden fühlte, und das selbstverständlich über dem gefesselten Körper der zuvor vom Übeling verschleppten Heldin ...
So schleppt sich das turbulente Geschehen - dies ist seltsamerweise kein Widerspruch, wie es dem Verfasser gelingt zu beweisen - zum Höhepunkt, der schamlos übertrieben und überdehnt wird, bis auch er so kläglich verendet wie der Menschenjäger aus dem Steinzeitdunkel, diesem Baukasten-Thriller endlich das obligatorische Happy-End gegönnt wird und der Leser sich über weitere Lebensstunden ärgert, die ihm oder ihr niemals zurückgegeben werden.
Jay Bonansinga, Rowohlt
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