Der Engel der letzten Stunde

  • Haymon
  • Erschienen: Januar 2005
  • 2
  • Innsbruck: Haymon, 2005, Seiten: 186, Originalsprache
  • Zürich: Unionsverlag, 2007, Originalsprache
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Wolfgang Reuter
65°1001

Krimi-Couch Rezension vonJan 2006

Deftige Sprüche und rhetorischer Slapstick

"Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie?"
(Thomas Bernhard)

Das ist der dritte Kriminalroman um den Detektiven Marek Miert. Der Expolizist erhält vom todkranken Kommerzialrat Schieder quasi auf dem Totenbett den Auftrag, die elfjährige Helene zu suchen. Das Mädchen ist auf dem Schulweg verschwunden. Seine Ermittlungen führen ihn zu Nachbarn, zum Würstelstand, zur Mutter Helenes, einer schweren Alkoholikerin, die sich offenbar nur insofern von der Geschichte betroffen fühlt, als sie damit Geld machen kann. Ein Freund namens Willi taucht auf, und Miert dämmert es, dass die Minderjährige offenbar als Prostituierte herhalten musste.

In weiterer Folge treten auf: Eine rechtsextreme, fremdenfeindliche "Österreich - Bewegung", kompensatorisch eine feinsinnige Türkin, Gourmet und Weinkennerin, ein moralisch fragwürdiger Polizist mit entscheidender Rolle in Mierts Vergangenheit, ein dubioses Detektivbüro Gamper & Gamper sowie eine Afghanische Flüchtlingsfamilie. Und schließlich ein Menschenfreund. Oder gleich zwei. Aber mehr wird hier nicht verraten.

Marek Miert ist eine sehr eigenwillige Figur. Ein heruntergekommener Moralist, ein Revolutionär und Obrigkeitshasser von eigenen Gnaden. Ein Kind, welches träumt, die Welt zu retten, bevor es in einem alten, überdimensionalen Körper erwacht. Ein romantischer Anarchist.

Obwohl das Buch mit weniger als 200 Seiten rasch zu lesen ist, legt Wieninger keinen Wert auf ein hohes erzählerisches Tempo. Seine Sprache bewegt sich zwischen originellen, deftigen Sprüchen und rhetorischem Slapstick sowie Zwangswitzen und abgegriffenen Klischees. All das steht im Vordergrund und verstellt immer wieder den Blick auf die Handlung. Man hat die Wahl: Pausenloses Amüsement über die zweifellos gelungenen witzigen Bemerkungen, Assoziationen, Personen- und Ortsbeschreibungen oder dem wiederholten Ärger über die Selbstverliebtheit des Autors in seine eigene Formulierungskraft und sprachliche Potenz.

Wieningers vordergründige Absicht ist offenbar das Aufzeigen gesellschaftlicher Missstände und Fehlentwicklungen in Österreich, mit Hilfe des zornigen, aufbegehrenden, provozierenden Marek Miert. Doch in seiner ganzen sprachlichen Wut, in seiner fast snobistischen sozialen Isolation wirkt der Protagonist nicht immer glaubhaft, eher etwas konstruiert.

So wird etwa zur Illustration der allgemeinen Kulturlosigkeit und Kunstfeindlichkeit Mierts Vorzimmer mit billigen Stichen vom Flohmarkt geschmückt: Ein heiliger Hubertus-Hirsch, eine markige Gebirgsjäger-Szene von der Isonzo-Front und ein Portrait von Peter Alexander als Kellner im "Weißen Rössl". Alles zutreffende Klischees.

Doch der Teufel steckt im Detail. Das österreichische Volk besteht aus lauter selbsternannten Staatsopern- und Burgtheaterdirektoren, allesamt "Kunstkennern", die am Würstelstand burgtheaterdeutsch sprechen und Musil gelesen haben. Diesem Klischee des "Kunstkennertums" entgeht jedenfalls der Österreicher Wieninger erstaunlicherweise nicht. Denn wie durch Zauberhand stehen in Mierts heruntergekommener Wohnung im Bücherregal unter anderem Robert Musil und Georg Büchner, hört dieser im Auto Gershwin und Dvoraks neunte Symphonie, und selbstredend weiß er Bescheid um die Geheimnisse der Inszenierungen Max Reinhards.

Nicht zuletzt wird des öfteren sogar Thomas Bernhard genannt, und spätestens da wird die ganze Sache etwas fragwürdig, steht der sprachliche Furor als Thomas Bernhard-Verschnitt im Raum. Er sollte aber gar nicht erst versuchen, der bessere oder originellere Thomas Bernhard zu sein. Ein Schriftsteller-Leben als Bernhard-Epigone ist kurz und unbedankt.

Trotz allem ist das Buch geeignet, auch positive Reaktionen hervorzurufen, als schräge, wortgewaltige, komische, kompromisslose Realsatire, möglicherweise für manche auch mit einem gewissen Kult-Status. Trotz des etwas kitschigen Schlusskapitels. Aber Kitsch ist so österreichisch wie Schlamperei, Genialität, Kunstkennertum, Übertreibung, Egozentrik, Morbidität und Moralismus. Also frage ich im Sinne Thomas Bernhards statt "Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie?" in diesem Falle:

  • Ist es ein typischer österreichischer Kriminalroman?
  • Ist es das Klischee eines typischen österreichischen Kriminalromans?

Zur Beantwortung dieser Fragen hilft nur eines: Kaufen und lesen!

Der Engel der letzten Stunde

Manfred Wieninger, Haymon

Der Engel der letzten Stunde

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