Sturmwarnung
- Shayol
- Erschienen: Januar 2005
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- Burton: Subterranean, 2000, Titel: 'The Big Blow', Originalsprache
- Berlin: Shayol, 2005, Seiten: 166, Übersetzt: Hannes Riffel
Nichts wird bleiben wie es war
Galveston, eine Stadt an der Ostküste der USA: An einem heißen Septembertag steht "Lil’ Arthur" John Johnson vor der härtesten Herausforderung seines 22-jährigen Lebens. Der talentierte Nachwuchsboxer hat den Champion des örtlichen Boxclubs besiegt und den Meistertitel gewonnen - an sich ein sportliches Ereignis, doch Johnson ist schwarz und der Gegner war weiß. Im Texas des Jahres 1900 gilt dieser Sieg als ungeheuerliche Niederlage der "überlegenen weißen Rasse", die es unbedingt zu tilgen gilt. Ronald Beems, Präsident des "Sporting Clubs", muss sich vor seinen rassistischen weißen Clubmitgliedern "rehabilitieren". Dafür gilt es den verhassten Johnson, der seine Krone behalten will und sogar vom sportlichen Aufstieg träumt, nicht nur zu besiegen sondern zu vernichten.
Beems meint das buchstäblich: Er heuert den brutalen Schläger John McBride an, der Johnson im Ring totschlagen soll. Die Polizei ist geschmiert, sie wird den illegalen "Kampf", der ohne Boxhandschuhe, d. h. mit den blanken Fäusten und ohne Regeln auszutragen ist, nicht verhindern. Johnson ist sich der Tatsache durchaus bewusst, dass man ihn nicht boxen, sondern sterben sehen will. Ehrgeiz und Stolz verbieten ihm vom Fight zurückzutreten.
Die ganze Gemeinde fiebert dem öffentlichen Ende des "Niggers" entgegen. Darüber entgeht den Bürgern, dass sich über der Küste zum Golf von Mexiko Seltsames zusammenbraut. Das Barometer fällt, der Wasserpegel steigt. Doch man bleibt unbesorgt, denn diese Vorzeichen wollen zu einem Sturm noch nicht passen. Also werden keinerlei Maßnahmen getroffen. Aber man fühlt sich zu sicher. Während McBride und Johnson zum Kampf auf Leben und Tod antreten, braut sich auf dem Meer der Sturm des Jahrhunderts zusammen, der die Stadt und die meisten ihrer Bewohner auslöschen wird ...
Spannendes Geschehen vor realem Hintergrund
Gleich drei historische Eckpfeiler stützen das Handlungsgerüst dieses Kurzromans. Da ist zum einen die Rassendiskriminierung in den Südstaaten der USA um 1900. Die Zeit der Sklaverei liegt gerade dreieinhalb Jahrzehnte zurück, bis zur (zumindest gesetzlichen) Gleichstellung von Schwarz und Weiß wird noch mehr als ein halbes Jahrhundert vergehen. Die meisten Schwarzen stehen sich eher schlechter als die ehemaligen Sklaven. Seit sie nicht mehr als "bewegliches Gut" gelten, das zum Zwecke der optimalen Arbeitsausnutzung "geschont" wurde, betrachtet sie die weiße Mehrheit auf dem Arbeitsmarkt als Konkurrenten und gesellschaftlich als bedrohliche Parias. Gleichzeitig wächst eine neue schwarze Generation heran, die sich wie Arthur John Johnson nicht mehr mit der Rolle des bescheidenen, ausgebeuteten Tagelöhners und Arbeiters begnügen will, sondern mehr vom Leben fordert - für die weißen Rassisten, die keinesfalls von ihrer Macht und ihren wirtschaftlichen Privilegien auf Kosten der Schwarzen lassen wollen, eine unerträgliche Herausforderung. So ist das Zusammenleben der Rassen geprägt von Misstrauen und latenter Gewalt, die immer wieder offen ausbricht; die Leidtragenden sind fast ausschließlich von schwarzer Hautfarbe.
Vor diesem Hintergrund gewinnt der Kampf zwischen McBride und Johnson eine ganz neue Dimension: Der sportliche Aspekt ist Nebensache. Tatsächlich steht hier "Weiß" gegen "Schwarz" im Ring; Sieg oder Niederlage stützen oder stürzen Weltbilder. Verstärkt wird die Konfrontationssituation durch die besondere Variante des Boxkampfs, die in Galveston gewählt wird. Während in der offiziellen Welt des Sports schon seit 1867 die "Regeln für das Boxen mit Handschuhen" des Marquess von Queensberry gelten, zieht eine brutalisierte Zuschauerminderheit den "ehrlichen” Kampf mit blanken Fäusten und ohne Regeln zu. Da dabei der Boxer schwer verletzt oder getötet werden kann, ist diese Art des Boxens längst verboten. Deshalb müssen solche Kämpfe illegal organisiert und heimlich ausgefochten werden.
Eine ungeahnte Aktualität gewinnt Joe R. Lansdales Roman durch das Wettergeschehen des Jahres 2005, das in den USA als "Jahr der großen Stürme" in die Geschichte eingehen wird. Gleich mehrfach fielen Hurrikans und Wasserwände über die Südostküsten des Landes her, versenkten wie New Orleans ganze Großstädte, richteten Milliardenschäden an und kosteten Menschenleben. Dieses Szenario entspricht ziemlich genau dem des Jahres 1900, als ein Sturm unerhörten Ausmaßes Kurs auf Galveston nahm und die Stadt dem Erdboden gleichmachte. So absolut war die Zerstörung, dass niemals festgestellt werden konnte, ob nun 6.000 oder 12.000 Menschen der Katastrophe zum Opfer fielen. "Isaacs Sturm" nannte der Schriftsteller Erik Larson sein (hier a. a. O. ebenfalls rezensierte) Buch über das Desaster von Galveston, das auch durch den Starmeteorologen Isaac Cline mitverschuldet wurde, der die Vorzeichen falsch deutete und auf dessen Fachwort man sich verließ, bis es zu spät war.
Schon angedeutet wurde, dass es in diesem Buch um weit mehr geht als einen Boxkampf. Autor Lansdale präsentiert uns eine Parabel: So wie Galveston und seine Bürger untergehen, weil sie ihrer Probleme nicht Herr werden können und den großen Sturm unbeachtet lassen, so kann es der Gesellschaft insgesamt ergehen, wenn sich ihre verschiedenen ethnischen, religiösen oder anderweitig differenzierten Gruppen nicht endlich zusammenraufen. Insofern ist Lansdales Galveston ein Symbol und eine Ankündigung dessen, was in diesem gerade angebrochenen 20. Jahrhundert folgen würde. Die Last der Vergangenheit wird zur Hypothek auf die Zukunft, die nie wirklich beginnen kann, so lange die Beems auf dieser Erde das Sagen haben. ("Sturmwarnung" basiert auf die zum Roman erweiterte Novelle "Der große Knall", die 1997 Douglas E. Winters große Anthologie "Millennium" - dt. "Offenbarungen" - einleitete, die sich literarisch mit den großen Veränderungen des 20. Jahrhunderts beschäftigte.)
Klare Worte für eine harte Lektion
Lansdale-typisch kommt diese Lektion ganz und gar nicht trocken daher. Drastischer er vermag kaum jemand eine brutalisierte, verkommene, erbarmungslose Welt in Szene setzen. Seine Protagonisten sind verroht, ihr Handeln und Denken beschreibt Lansdale ohne Rücksicht auf feinfühlige Leser. Sex oder Gewalt, Sex und Gewalt; in der schwülen Ruhe vor dem Sturm brodelt es in Galveston wie in einem Dampfkochtopf. Dass Lansdale diese Sprache bewusst als Stilmittel einsetzt, verraten jene Kapitel, in denen er den Sturm und sein Toben beschreibt. Hier wählt er völlig andere Worte, schafft eindrucksvolle Stimmungsbilder, weiß die unwirkliche Apokalypse geradezu sichtbar zu machen.
Ein Mikrokosmos als Spiegel der Gesellschaft
Die Welt ist schlecht und weil dem so ist, wird sie von entsprechenden Menschen bevölkert. Zumindest auf Galveston trifft dies zu. Keine der Hauptfiguren ist wirklich sympathisch. Auch John Johnson, der doch prädestiniert wäre für die Rolle des schwarzen Helden, der die Bande sprengt, die seine finsteren Zeitgenossen ihm übergeworfen haben, ist vor allem ein ganz normaler Mensch, der seinen eigenen Vorteil im Auge hat. Zwar denkt er auch an seine Familie doch als diese auf seine Hilfe am meisten angewiesen ist, lässt er sie im Stich, um seinem Stolz zu frönen.
Leicht macht es Lansdale seinen Lesern auch nicht mit den "Bösen" in seinem Spiel. McBride ist ein egoistischer Mistkerl, der alle negativen menschlichen Eigenschaften in seiner Person vereinigt. Doch er ist kein Dummkopf und ein großer Teil seiner Rücksichtslosigkeit basiert auf dem genauen Wissen um die gesellschaftlichen Realitäten seiner Epoche. Auch McBride wird niemals zur geachteten Oberschicht gehören. Seine momentane Prominenz verdankt er einzig seinen Fäusten. Deshalb kostet er die Privilegien, die ihm geboten werden, nach Herzenslust aus und verachtet jene, die sie ihm bieten. McBride verprügelt seine Sparringspartner, seine Ringgegner, seinen Auftraggeber Beems. Er scheint nur an sich zu denken, doch als der Leser ihn richtig hasst, sieht man ihn plötzlich mit Johnson ein Baby aus den Trümmern von Galveston retten: Seinen Kontrahenten im Ring hasst McBride überhaupt nicht; ihn zu verprügeln war nur ein Job. Der hat durch den großen Sturm sein Ende gefunden, also gibt es für McBride keinen Grund mehr sich mit Johnson zu schlagen.
Somit ist der eigentliche Schurke der Rassist Ronald Beems? Lansdale foppt uns auch hier: Beems ist vor allem ein Schwächling, der panisch seine unterdrückte Homosexualität gleichzeitig zu leben und zu verbergen trachtet. Vordergründig hasst er Johnson aber eigentlich begehrt er ihn. Trotz seiner Position in der Gesellschaft von Galveston ist Beems wie Johnson ein Gefangener, dem schriftlich fixierte und unausgesprochen bleibende Gesetze und Regeln ein selbst gestaltetes Leben versagen.
Eine ganze Anzahl von Nebenfiguren lässt Lansdale neben dem Dreieck Johnson - McBride - Beems auftreten. Sie bilden einen Querschnitt durch die Bevölkerung von Galveston. Knapp skizziert der Verfasser Figuren, die im Gedächtnis bleiben. Sie stehen stellvertretend für die vielen Opfer, die der Hurrikan von 1900 forderte. Der Sturm macht keinen Unterschied zwischen "guten" und "schlechten" Menschen; sie sterben ohne Unterschied oder überleben durch manchmal absurde Zufälle. Dieser Verzicht auf ein Schwarz-Weiß-Schema, das die Figuren allzu vieler Romane oder Filme in zwei Gruppen teilt, die der erfahrene Leser oder Zuschauer zuverlässig in Überlebende und Opfer einzuteilen weiß, komplettiert die erfreulich lange Liste positiver Argumente, die sich für eine Lektüre von "Sturmwarnung" anführen lassen.
Ein Buch jenseits des Bestseller-Breis
Mit "Sturmwarnung" bringt der kleine aber feine Shayol-Verlag den ersten (und hoffentlich nicht schon letzten) Band seiner "Paria"-Reihe heraus. Bücher wie dieses machen deutlich, welche Nische Kleinverlage erfolgreich besetzen können. Für eine Buchfabrik wie z. B. Random House ist so ein Roman wohl uninteressant: zu dünn, Verfasser unbekannt, nicht auf Anhieb in eine Genre-Schublade zu stecken. Der deutsche Leser würde deshalb ohne "Sturmwarnung" leben müssen. Shayol nimmt sich nun des Außenseitertitels (deshalb "Paria"?) an, lässt ihn gediegen übersetzen. (Hannes Riffel übertrug übrigens schon die ursprüngliche Novelle "Der große Knall" ins Deutsche.) Kein liebloses Bildbank- oder -stockfoto verunziert den Titel. Ein von Marcus Rössler gemaltes Farbcover lässt ihn auffallen und fasst den Inhalt grafisch zusammen. Von ihm stammen auch die schwarzweiß gezeichneten Innenillustrationen. Als Paperback solide gebunden bleibt der Preis des Werks erfreulich günstig.
Joe R. Lansdale, Shayol
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