Nacht und Nebel
- Unionsverlag
- Erschienen: Januar 2005
- 5
- Istanbul: Beyoǧlu, 1996, Titel: 'Sis ve Gece', Originalsprache
- Zürich: Unionsverlag, 2005, Seiten: 368, Übersetzt: Wolfgang Scharlipp
- Zürich: Unionsverlag, 2008, Seiten: 365
Zum besseren Verständnis einer für viele Europäer noch immer fremden Kultur und als geistiges Rüstzeug für eine fundierte Auseinandersetzung
Bei Nacht und Nebel stöbert der türkische Geheimdienst eine Terroristengruppe um die Revolutionäre Fahri und Sinan in ihrem Versteck auf. Es kommt zu einer Schießerei, bei der mehrere Personen getötet werden. Der Geheimdienstagent Sedat wird schwer verletzt, sein Partner Yildirim erschossen.
Als Sedat nach langen Fieberträumen im Krankenhaus erwacht, erfährt er zunächst nur unklare Einzelheiten der Kommandoaktion, doch langsam wird klar, dass es sich offenbar um Selbstjustiz des Geheimdienstes gehandelt hat. Eine offizielle Untersuchung steht bevor, die Nervosität innerhalb der Organisation steigt.
Sedat, der gemeinsam mit Yildirim einem reformorientierten Flügel angehörte, möchte den Ereignissen auf den Grund gehen. Wer hat auf ihn und Yildirim geschossen? Warum ist seine Freundin Mine spurlos verschwunden? Ist sie Gefangene der Terroristen? Es dauert lange, bis die Nacht zum Morgen wird, der Nebel entweicht und die wahren Begebenheiten ans Licht kommen. Die Schatten nehmen Gestalt an, und Sedat wird mit einer schrecklichen Erkenntnis konfrontiert ...
Ahmet Ümit weiß, wovon er schreibt. Er war als Jugendlicher ein militantes Mitglied der türkischen kommunistischen Partei im Untergrund, bevor er sich der Literatur zuwandte. Der Roman hat daher auch autobiographische Züge und wirkt rundum authentisch. Der politische Hintergrund ist ihm wichtig, auch brisante Themen wie Selbstjustiz, Spannungen und Richtungskämpfe innerhalb des türkischen Geheimdienstes, gesellschaftliche Probleme der Minderheiten und der brutale Kinderhandel.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht Sedats Suche nach Mine. Die eigentlichen politischen Gegner, Sedat und Fahri, sind durch das Mädchen Mine schicksalhaft verbunden. Beide widmen ihr Leben ausschließlich ihrem Ideal und ihrer Pflicht - dem Kampf gegen den Terrorismus bzw. dem Kampf gegen den Staat. Mine setzt bei beiden ins Unterbewusste verdrängte Gefühle frei. Sie steht gleichsam für den eigentlichen Sinn des Lebens, für Schönheit, Liebe, sie ist die Muse der beiden Kontrahenten.
Das Duell Staatsgewalt gegen Terrorismus entpuppt sich als opernhafte Inszenierung eines Liebesdramas. Doch was für andere Autoren den Stoff eines Groschenromans abgeben könnte, gestaltet Ahmet Ümit als sehr feinsinniges psychologisches Drama.
Seine Charaktere sind gut und böse zugleich, allen voran Sedat, der Ich-Erzähler, ein kaltherziger, brutaler, gewissenloser Geheimdienstscherge, zugleich aber auch Familienvater und so nebenbei mitten im zweiten Frühling einer romantischen außerehelichen Beziehung zu Mine. Solche Typen kennt man auch etwa von gewissen SS - Größen, die sowohl liebevolle Väter und Gatten als auch sadistische Mörder sein konnten.
Die psychologische Entwicklung einer derartigen Figur ist schwierig, auch unter Berücksichtigung des Lesers, der sich schwer tut, seine Sympathien für die Personen zuzuordnen. Doch Ümit ist es ausgezeichnet gelungen, die Ambivalenz des Protagonisten, die äußerlichen Zwänge und die tragische Befreiung der verdrängten Gefühlsebene zu schildern.
Es ist ein türkisches Buch, wie Ümit selbst sagt, und die türkischen gesellschaftlichen Verhältnisse klingen stets an. Besonders die oft tragische und für viele Europäer unerträgliche Unterdrückung der Frauen, die über ihr eigenes Leben nicht selbst entscheiden können, insbesondere da ihnen von den Männern schon rechtzeitig jede ökonomische oder politische Grundlage genommen wird. Menschen aus unterschiedlichen Bevölkerungsschichten kommen zu Wort, in Gesprächen oder Verhören, was sich in dieser unaufdringlichen Form als literarischer Kunstgriff erweist.
Ahmet Ümit besitzt eine ruhige, unaufgeregte Sprache, die selbst in Momenten äußerster Brutalität ihren ruhigen Fluss nicht verliert. Die Spannung ist nicht immer hoch, das Ende mit seiner überraschenden, für Sedat tragischen Wende ist jedoch geglückt und lesenswert.
Die Robert Bosch-Stiftung und der Unionsverlag haben dieses Buch in ihrer neu gegründeten "Türkischen Bibliothek" aufgenommen. In Zeiten wie diesen hat eine derartige Bibliothek vorbildhaften Charakter: Zum besseren Verständnis einer für viele Europäer noch immer fremden Kultur und als geistiges Rüstzeug für eine fundierte Auseinandersetzung.
Ahmet Ümit, Unionsverlag
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