Sherlock Holmes - Das Mandala des Dalai Lama
- Erschienen: Januar 2004
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London im April des Jahres 1910: Noch steht das britische Empire auf dem Gipfel seiner Macht. Doch die Regierung weiß um die anstehenden Umwälzungen, die vor allem das aufstrebende Deutsche Reich unter Kaiser Wilhelm II. in den Kreis der Weltmächte drängen lassen. Diplomaten und Spione geben sich in der Politik und bei Hofe die Klinke in die Hand und oft ist es schwer oder unmöglich sie zu unterscheiden. Zu allem Überfluss lässt der fragile Gesundheitszustand des Königs sein rasches Ende erwarten. Seinem Sohn ist Edward leider nur als Weiberheld ein Vorbild gewesen. Kronprinz George konnte sich deshalb keinen unpassenderen Zeitpunkt für seine Liason mit der deutschen Gräfin Valenka aussuchen, welcher er zu allem Überfluss allerlei Briefe geschrieben hat, die ihn, den baldigen König George V., zu kompromittieren drohen.
Denn man hat sie gestohlen — aus dem hermetisch verschlossenen Tresorraum von Gairstone House, einem Landsitz der Regierung außerhalb Londons! Für Scotland Yard, hier vertreten durch den unermüdlichen Inspektor Lestrade, steht der Täter fest: Im Savoy- Theater tritt der Illusionist Harry Houdini auf, als Ausländer ohnehin verdächtig, der sich als Entfesselungskünster weltweit einen Namen und zuletzt Furore gemacht hat, als er sich in eine britische Gefängniszelle einschließen ließ und diese auf rätselhafte Weise verlassen konnte! Indizien vor Ort lassen auf eine Täterschaft des Künstlers schließen. Also setzt Lestrade Houdini fest. Glücklicherweise hat dessen Gattin Beatrice kurz zuvor den bekannten Detektiv Sherlock Holmes engagiert. Ein Konkurrent droht Houdini mit Mord und ist bereits — wenn auch erfolglos — zur Tat geschritten.
Daniel Stashower
Daniel Stashower arbeitet hauptberuflich als Journalist. Als Buchautor ist er auf Historienkrimis spezialisiert und verfasste u. a. mehrere Romane um die fiktiven Abenteuer des realen Bühnenmagiers Harry Houdini (1874-1926). Bekannt wurde Stashower darüber hinaus als Sherlock-Holmes-Spezialist. Er gab mehrere Anthologien mit neuen Holmes-Storys heraus und schrieb mit "Teller of Tales” 1999 eine Biografie von Sir Arthur Conan Doyle. Mit seiner Familie lebt Stashower in Bethesda, US-Staat Maryland.
Nun setzt Holmes seine Ermittlungskünste daran, Houdinis Unschuld zu beweisen. Das ist nicht leicht, da sowohl die Polizei als auch die Regierung von dessen Täterschaft überzeugt ist. Mycroft Holmes, ein hoher Mitarbeiter des britischen Geheimdienstes, befiehlt seinem Bruder Sherlock den Fall fallen zu lassen. Im Savoy-Theater findet sich die Leiche der Gräfin Valeska. Dr. Watson schwört allerdings, dies sei nicht die Dame, welche er tags zuvor unter diesem Namen kennengelernt hat. Spione belauern ihn und Holmes: ein Durcheinander so recht nach dem Herzen des Detektivs, der sich seiner ganzen Deduktions- und Verkleidungskunst bedienen und manche Pfeife schmauchen muss, bevor er die Lösung des vertrackten Falls präsentieren kann ...
Gelungene Auferstehung eines unsterblichen Detektivs
In drei Jahrzehnten hat Arthur Conan Doyle (1859-1930) insgesamt vier Romane und 56 Kurzgeschichten um Sherlock Holmes & Dr. John H. Watson verfasst. Er ließ sie zwischen ca. 1885 und 1914 spielen, einer Zeitspanne, die in der realen Welt durch tief greifende politische, gesellschaftliche oder künstlerische Umwälzungen gekennzeichnet wurde.
Diese fanden in Doyle Holmes-Erzählungen freilich wenn überhaupt dann nur am Rande statt: Die Realität war für Doyle in diesem Zusammenhang nicht wichtig. Er verzichtete dadurch auf ein Stilmittel, das er zu seiner Zeit nicht als solches erkannte bzw. ignorierte: Holmes-Abenteuer lassen sich publizistisch aufpeppen, wenn man "name dropping" betreibt, d. h. den Detektiv mit berühmten (oder berüchtigten) Zeitgenossen konfrontiert. In einer Zeit, die Doyles Zurückhaltung nicht mehr kennt, ist er inzwischen gemeinsam mit Jack the Ripper, Sigmund Freud, H. G. Wells, dem tibetischen Dalai Lama oder Dracula aufgetreten - die Liste ist nicht einmal annähernd vollständig.
Solche Begegnungen können durchaus reizvoll wirken, wenn sie sich nicht auf das Sensationelle ihrer Tatsache beschränken. Daniel Stashower hat dies beherzigt. Harry Houdini ist ein integraler Bestandteil des hier vorliegenden Romans. Er stellt seine Taten und Worte in den Dienst der Handlung, die - das ist ein deutliches Indiz für ihre Qualität - auch ohne ihn funktionieren würde. Soll heißen: Verfasser Starshower könnte Houdinis Missgeschick auch einem anderen Magier zustoßen lassen. Er würde damit nur auf den Prominentenbonus verzichten, den ihm Houdinis Namen liefert. (Wobei die Frage im Raum steht, ob die jüngeren Leser überhaupt wissen, wer Harry Houdini war ...)
Die gute Holmes-Story ist immer die gleiche Holmes-Story
In der Tat bietet "Sherlock Holmes und der Fall Houdini" eine "neue" Holmes & Watson-Geschichte mit den alten Qualitäten: nostalgische Krimikost im historischen (oder besser historisierenden) Gewand, wie sie Arthur Conan Doyle selbst zubereitet haben könnte. Allerdings eher der Doyle der späteren Jahre, der sich emotional von seinem Meisterdetektiv längst gelöst hatte und neue Storys vor allem deshalb schrieb, weil man ihn fürstlich dafür entlohnte. Die Holmes-Erzählungen der 1910er und 20er Jahre stellen Variationen der frühen Geschichten dar, die für die Holmes-Saga wenig oder gar nichts Neues bringen.
Auf dieser Schiene bewegen sich auch die meisten Holmes-"Biografen" nach Doyle: bloß keine Experimente! "Sherlock Holmes und der Fall Houdini" ist da keine Ausnahme. Der Plot ist solide aber keinesfalls originell. Er besteht im Grunde aus den Elementen der alten Holmes-Stories, die für diesen Roman leicht variiert und neu zusammengesteckt wurden. Man muss freilich einige Vorkenntnisse in Sachen Holmes mitbringen um dies zu bemerken. Auch sonst stört es nicht, sobald man sich von dem Gedanken freimacht, dieses Buch trüge etwas Eigenes zum Mythos bei. Solche Holmesiana gibt es durchaus: Michael Dibdin nannte seinen Beitrag 1978 nicht ohne Grund "The Last Sherlock Holmes Story" (dt. "Der letzte Sherlock-Holmes-Roman", 1980); nach dem von ihm aufgetüftelten Finale war eine Fortsetzung wirklich nicht mehr möglich. (Allerdings hat der Mythos auch diesen Schlag letztlich mühelos eingesteckt.)
Also schlüpfe man in "Sherlock Holmes und der Fall Houdini" wie in alte, bequeme Pantoffel: Sie passen perfekt, es gibt keine Überraschungen, Erholung ist sicher. Das ist nicht abfällig gemeint, denn Stashower hat seinen Job gut getan und die Holmes-Magie, die es unbetritten gibt, zieht wieder einmal in ihren Bann. Dem Bastei-Lübbe-Verlag sei deshalb gedankt für die Fortsetzung seiner kleinen Holmes-Reihe, die den Fan in unregelmäßigen Abständen mit neuem "Stoff" versorgt.
Die deutsche Ausgabe gefällt zusätzlich durch ein Nachwort von Michael Ross, der den Roman auch (durchweg lesbar) übersetzt hat. Kundig ordnet Ross "Sherlock Holmes und der Fall Houdini" in die inzwischen fast endlose Reihe der Werke ein, die nach Arthur Conan Doyles Tod entstanden und den weiterhin vorhandenen Hunger des lesenden Publikums nach neuen Holmes & Watson-Geschichten stillen möchten.
Unter anderem weist Ross auf ein Werk hin, das nach "Sherlock Holmes und der Fall Houdini" (erschienen immerhin bereits 1985) veröffentlicht wurde und ebenfalls den Meistermagier in ein Verbrechen verwickelt: "Escapade" von Walter Satterthwait (1995; dt. Eskapaden) konfrontiert Houdini allerdings nicht mit Sherlock Holmes, sondern mit dessen geistigen Vater Arthur Conan Doyle. Es ist das definitiv gelungenere Buch, welches sich der Freund des "historischen" Kriminalromans keineswegs entgehen lassen sollte.
Der neue Holmes ist wieder ganz der alte
Das weiter oben Gesagte könnte an dieser Stelle wiederholt werden. Was für die Story gilt, ist für die Figuren sogar noch strenger zu beachten: Sherlock Holmes muss Sherlock Holmes, Watson muss Watson, sogar Lestrade muss Lestrade bleiben. Also bleibt der Detektiv dazu verdammt Frauen im besten Fall skeptisch gegenüber zu treten, zur Aufhellung depressiver Stimmungen Geige zu spielen, grässlichen Knaster zu rauchen oder zum x-ten Male auf Händen und Füßen über spurenverdächtiges Gelände zu krabbeln. Watson gibt natürlich erneut den treuen aber geistig dem Meister hoffnungslos unterlegenen Chronisten; so hat ihn Doyle einst konstruiert, um Holmes' Licht um so heller strahlen zu lassen. (Wer einmal einen ganz anderen Watson erleben möchte, lese "The Doctor's Case", dt. "Watsons Fall", eine wunderbare Story von — man lese & staune — Stephen King.)
Zwar ist Harry Houdini im Gegensatz zu Holmes & Co. eine reale Gestalt. Allerdings starb er im Jahre 1926; seine Karriere fällt daher in eine Zeit, in der für die Mehrheit der heutigen Leser noch Dinosaurier lebten ... Verfasser Stashower musste sich daher nur an wenige Eckdaten der Houdini-Biografie halten. Vor allem profitierte er jedoch von dem Ruf, dessen Houdini sich erfreute: Er war ein früher "Showman", der sehr genau wusste, dass eine gelungene Selbstvermarktung mindestens ebenso wichtig ist wie ausgefeilte Zaubertricks. Houdini war ein Meister beider Fächer, wobei er als Publizist der eigenen Person bemerkenswert selbstbewusst auftrat und keinerlei Furcht vor Übertreibungen an den Tag legte. Dieser Charakterzug wird von Stashower selbstverständlich dankbar aufgegriffen. Sein Houdini hat sich quasi selbst erschaffen; ob er mit der wirklichen Person mehr oder weniger deckungsgleich ist, bleibt absolut nebensächlich. Auf diese Weise reiht er sich nahtlos in das übrige Ensemble ein und trägt redlich seinen Teil dazu bei, eine eher nostalgische als aufregende Geschichte gut über die Runden zu bekommen.
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