Hinter jenem Vorhang
- Universitas
- Erschienen: Januar 1930
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- Indianapolis: Bobbs-Merrill, 1928, Titel: 'Behind That Curtain', Seiten: 336, Originalsprache
- Berlin: Universitas, 1930, Seiten: 255, Übersetzt: Curt Thesing
- München: Goldmann, 1956, Seiten: 183, Übersetzt: Curt Thesing
- Berlin: Amsel, 1953, Seiten: 201, Übersetzt: Curt Thesing
- München: Heyne, 1983, Titel: 'Charlie Chan und die verschwundenen Damen', Seiten: 253, Übersetzt: Dietlind Bindheim
Weise Sprüche, harte Fakten: Mr. Chan ermittelt
San Francisco in den "Roaring Twenties” des 20. Jahrhunderts. Der junge Reporter Bill Rankin ist aufgeregt. Kapitales Wild ist ihm vor Block & Bleistift geraten: Sir Frederic Bruce, der ehemalige Chef der Kriminalabteilung von Scotland Yard, hält sich als Gast des Multimillionärs Barry Kirk in der Stadt auf. Der legendäre Ermittler ist eine Quelle fabelhafter "True Crime”-Storys. Weil er an seinen Memoiren arbeitet und sich für ein wenig Eigenwerbung nicht zu schade ist, gewährt er Rankin eine Audienz. Dieser greift die Gelegenheit beim Schopfe. Um Bruce redseliger zu stimmen, schlägt er ihm eine Zusammenkunft mit einem berühmten Kollegen vor.
Charlie Chan von der Kriminalpolizei der Hawaii-Insel Honolulu steht eigentlich kurz vor der Heimreise; die Niederkunft seines elften Nachkömmlings steht bevor. Trotzdem freut sich der chinesischstämmige Mann auf die Fachsimpelei mit Bruce. Auch Kirk ist von Chan angetan und lädt ihn auf eine kleine, aber feine Abendgesellschaft ein. Dort herrscht ein großes Kommen und Gehen, was fatal ist, als Sir Frederic, der Ehrengast, mit einer Kugel im Schädel aufgefunden wird.
Ein Kriminalist hat sich überschätzt
Alle Gäste sind verdächtig. Die Polizei ist ratlos. Eher widerwillig schaltet sich Chan in die Untersuchung ein. Bruce hatte ihm kurz vor seinem Ende erzählt, dass er sich beileibe nicht gänzlich zurückgezogen habe. Da gab es einige Fälle, die er nie klären konnte und um die er sich nach der Pensionierung verstärkt kümmerte, um endlich "hinter jenen Vorhang zu schauen”, der das Rätsel verbirgt. Vor allem war da das rätselhafte Verschwinden der jungen Eva Durand in einer indischen Grenzstadt. Nie hatte Bruce sich mit seinem Versagen abgefunden. Nun war er offenbar auf eine Spur gekommen, wenn man seinen Andeutungen Glauben schenken möchte, die er - Chan ist es nicht entgangen - sehr planmäßig gestreut hatte: Sir Frederic Bruce hat eine Falle gestellt!
Nur leider ist er selbst es gewesen, der sich in ihr fing. Wer hat ihn ermordet? Was hat sein Tod mit einem alten Kriminalfall zu tun, der sich eine halbe Welt entfernt ereignet hat? Welche Rolle spielen die feinen chinesischen Pantöffelchen, die dem toten Bruce gestohlen wurden? Charlie Chan kann nicht widerstehen. Er "berät” den überforderten Captain Franklin und kommt schließlich einer Frau mit vielen Namen und einer alten, aber längst nicht abgeschlossenen Kriminaltragödie auf die Spur ...
Krimi-Klassik in Vollendung
Ein Mann mit einem Geheimnis wird umgebracht; es muss ein Mitglied der Gesellschaft gewesen sein, mit der er seine letzte Party gefeiert hat. Ein "Mord im geschlossenen Raum” also und damit die klassische Ausgangssituation für einen "Whodunit?”-Thriller der "Goldenen Ära” des Detektivromans vor dem Zweiten Weltkrieg. Earl Derr Biggers holt aus den üblichen Elementen geradezu generalstabsmäßig heraus, was die Jagd nach dem Täter spannend verzögert.
Aber "Hinter jenem Vorhang” bietet mehr. Sir Fredric Bruce ist einem außerordentlich verwickelten Verbrechen auf der Spur gewesen. Je länger Charlie Chan und die Polizei ermitteln, desto verblüffter müssen sie feststellen, dass Bruce überall auf der Welt verschwundenen Frauen nachgeforscht hat. Die Gäste jener verhängnisvollen Party sind sämtlich in solche Fälle verwickelt.
Es kommt sogar noch besser: In den meisten Fällen scheinen die verschwundenen Damen identisch zu sein - und diese im buchstäblichen Sinn multiple Persönlichkeit ist ebenfalls am Ort der Untat aufgetaucht. Langer Rede kurzer Sinn: Biggers gelingt in "Hinter jenem Vorhang” ein faszinierender Plot, dessen Auflösung man gespannt entgegensieht.
Dies geschieht selbstverständlich ebenfalls klassisch: Alle Verdächtigen werden von Charlie Chan an einem Ort versammelt. Dann konfrontiert er die Anwesenden mit dem minuziös rekonstruierten Tatablauf und den Hintergründen der Bluttat. Der Höhepunkt dieses großen Finales besteht in der Demaskierung des - bisher vom Leser hoffentlich nie verdächtigten - Mörders, der daraufhin gern eine Waffe zieht und die Gruppe bedroht, während er (oder sie) noch offene Fragen zur Tat selbst beantwortet, um anschließend Selbstmord zu begehen oder überwältigt zu werden.
Von diesem Spiel kann das Krimi-Publikum offenbar niemals genug bekommen. Kein Wunder, wenn die bekannten Elemente so kunstvoll zum Einsatz kommen wie in diesem Roman! Earl Derr Biggers hat großartige Arbeit geleistet. Seine Charlie-Chan-Romane sind nicht immer so gut gelungen wie dieser, der auf jeden Fall eine Bereicherung für das Genre darstellt.
Scharfer Verstand hinter träger Maske
Charlie Chan ist eine im Detektivroman nicht unbedingt singuläre Gestalt: ein "exotischer” Ermittler, der nicht nur begabt, sondern von ungewöhnlicher Herkunft ist und der seinem Job auf sehr individuelle Art nachgeht. So etwas fesselt, wird es richtig gemacht, die Leser stärker an die Figur, weil diese sich leichter einprägt.
Chan ist Chinese (eigentlich US-Amerikanischer chinesischer Abstammung, aber diesen feinen Unterschied scheint nicht einmal er selbst wichtig zu finden), d. h. "typischer” Repräsentant des geheimnisvollen Orients mit seinen sehr auf ihr "Gesicht” bedachten, in den Augen des Auslands undurchschaubaren Bewohnern. Als naturalisierter Amerikaner steht Chan seinem Geburtsland China noch sehr nahe. Er spricht die "neue” Sprache gut, aber auf angeblich "chinesische” Art, was - so will es das Klischee - den reichlichen Einsatz blumiger Aphorismen bedeutet.
Seine unzähligen "Sinnsprüche” haben Charlie Chan mindestens ebenso berühmt gemacht wie seine kriminalistischen Fähigkeiten (oder seine stetig wachsende Kinderschar). Aber Autor Biggers lässt nie einen Zweifel daran, dass Chan mehr ist als ein maskenhaft lächelnder Asiate. Statt dessen schildert er einen Mann, der scharf beobachtet, nachdenkt, prüft und durchaus energisch seine Kollegen zu lenken weiß. Deshalb genießt er Ansehen, geht beim "weißen” Establishment wie selbstverständlich ein und aus, bleibt verschont von rassistischen Anfeindungen. Wenn sich eine Figur über Chan, den "Chinesen” mokiert, dann ist dies immer ein Schurke und/oder ein Dummkopf. Für die Entstehungszeit der Charlie-Chan-Romane ist das eine bemerkenswerte Offenheit.
Dass Earl Biggers immer für eine Überraschung gut ist, verrät die Figur der Assistentin des Bezirksstaatsanwalt. Eine Frau in wichtiger Funktion, d. h. keine Tippse oder Kaffeekocherin, sondern eine gestandene Juristin: Das ist ganz und gar keine Selbstverständlichkeit in einem Kriminalroman des Jahres 1928! Und diese June Morrow arbeitet mit der Polizei und Charlie Chan aktiv an der Lösung des Mordfalls Bruce. Zwar wird ihre Tätigkeit mit dem Hinweis auf ihr Geschlecht gern und ausführlich in Zweifel gezogen (und durch die Heirat mit einem schmucken jungen Millionär im Finale durch die für eine Frau ziemlichere Mutterrolle ersetzt), aber Miss Morrow ist definitiv eine weibliche Hauptfigur.
Die Polizei kommt wie so oft im klassischen Detektivroman eher schlecht weg: Captain Franklin sieht in der Regel den Wald vor lauter Bäumen nicht; ihm bleibt auch verborgen, dass ihn Charlie Chan ständig durch hintergründige, aber sehr sarkastische Aphorismen durch den Kakao zieht. Karikierend wirkt auch Franklins Obsession, jegliche Zeitgenossen, die sich irgendwie "verdächtig” machen, umgehend verhaften zu lassen.
Fazit: Die nostalgisch vergoldeten aber weiterhin präsenten Qualitäten lassen diesen Roman zu einem Muss für historisch interessierte Thrillerfreunde werden. Da ist es doppelt bitter, dass "DuMonts Kriminal-Bibliothek", die gerade mit der Veröffentlichung der neu übersetzten Chan-Romane begonnen hatte, vom Verlag eingestellt wurde.
Earl Derr Biggers, Universitas
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