Die Insel
- Ullstein
- Erschienen: Januar 2005
- 9
- Berlin: Ullstein, 2005, Seiten: 512, Übersetzt: Charlotte Breuer, Norbert Möllemann
- Berlin: Ullstein, 2006, Seiten: 480, Übersetzt: Charlotte Breuer, Norbert Möllemann
- Berlin: Ullstein, 2008, Übersetzt: Charlotte Breuer, Norbert Möllemann
- London: Hodder & Stoughton, 2003, Titel: 'Bad Men', Originalsprache
- New York: Atria Books, 2004, Titel: 'Bad Men', Originalsprache
Psychopathenattacke auf die Insel der Geister
Dutch Island ist eine gar nicht so kleine Insel vor der Pazifikküste des US-Staats Maine. Knapp tausend Menschen leben hier und bilden eine geschlossene Gemeinschaft; für "Fremde" vom Festland ist es schwer Fuß zu fassen. Marianne Elliot kämpft als allein erziehende Mutter mit vielen Vorurteilen. Dennoch arrangiert sie sich, denn sie ist auf der Flucht vor ihrem Ex-Mann: Edward Moloch ist ein Psychopath, der sie voll irren Zorns sucht, seit sie sich mit Sohn Danny und viel Geld abgesetzt hat. Nach drei Jahren Haft ist Moloch gerade ausgebrochen. Mit sechs vertierten Killern zieht er auf der Suche nach seiner Familie und dem Geld eine blutige Spur durchs Land, während er sich Dutch Island bedrohlich nähert.
Dort beginnt Marianne gerade eine Beziehung mit dem depressiven Inselpolizisten Joe Dupree, genannt "Melancholie-Joe". Der 2,15 m große Mann gehört einer der ältesten Familien von Dutch Island an. Er kennt und hütet die Geheimnisse der Insel, die einst "Sanctuary" - "Zuflucht" - hieß; ein wahrer Hohn, denn im Jahre 1693 hatten sich Siedler vom Festland auf die Insel zurückgezogen. Ein Verbannter aus den eigenen Reihen war zum Verräter geworden, hatte mit feindseligen Indianern paktiert und diese heimlich zur Siedlung geführt, die mit Mann & Maus ausgelöscht wurde.
Seither geht es um auf Dutch Island. Die Einheimischen wissen nichts Genaues und hegen ihre Unkenntnis sorgfältig. Belegt ist allerdings, dass die Geister der Insel von Gewalt magisch angezogen werden. Wer auf Dutch Island in dieser Hinsicht über die Stränge schlägt, schwebt in Lebensgefahr. Immer wieder verschwinden Säufer, Schläger und andere unerfreuliche Zeitgenossen spurlos im dichten Inselwald. Leider unterscheiden besagte Geister nicht zwischen Tätern und Opfern; sie fallen über beide her. Deshalb führt die Ankunft Molochs und seiner Spießgesellen zum Umkippen des sorgfältig austarierten Gleichgewichts und schließlich zur Katastrophe. Die Killer terrorisieren das Inselvolk und die Geister werden stärker und dreister, während ein Unwetter Dutch Island vom Festland und von jeder Hilfe isoliert ...
Böse Männer & ebensolche Geister
Hannibal Lector X 7 in der Nacht der lebenden Toten: Auf sehr ungewöhnlichen Pfaden wandelt Thriller-Schwergewicht John Connolly, bekannt geworden durch seine hochklassigen Krimis um den Cop Charlie "Bird" Parker, indem er "sein" Genre mit der Phantastik mischt. So ungewöhnlich wie zunächst angenommen ist dies freilich nicht. Der Blick auf Connollys Website (www.johnconnollybooks.com) verrät, dass der Autor im angelsächsischen Leserraum auch Geistergeschichten veröffentlicht hat.
Nach eigener Aussage ist für ihn die "Reinheit" des Genres ohnehin nebensächlich. Eine möglichst spannende Geschichte möchte Connolly erzählen. Dafür ist ihm jedes Mittel Recht. Hier kann man ihm nur zustimmen, doch das Ergebnis wirkt trotzdem leicht unausgegoren. "Die Insel" ist zwar connollytypisch ein echter Pageturner, der indes einen ähnlichen Eindruck wie der Filmklassiker "From Dusk Till Dawn" hinterlässt: Zu einer Einheit wollen sich Diesseitiges und Jenseitiges nicht wirklich verbinden.
Die Story ist actionorientiert. Hintergründigkeit wird vor allem in der Figurenzeichnung (s. u.) suggeriert, bleibt aber Behauptung. Der Plot ist denkbar schlicht. Dass dies in der Regel nicht unangenehm auffällt, verdanken wir Connollys schriftstellerischem Geschick. Er kennt die Tricks, um sein Publikum bei der Stange zu halten. Erschreckende aber nie direkt geschilderte Gewaltszenen wechseln mit quasi dokumentarischen Einblicken in das Alltagsleben auf einer abgeschotteten Insel. Auch der Humor kommt nicht zu kurz; Connolly gelingen vor allem kurze, trockene Einzeiler ("In der Küche entdeckte er einen Stapel mit Fast-Food-Verpackungen, voll mit abgenagten Knochen jener winzigen Hühnchen, die Imbissketten auf irgendeinem verstrahlten Pazifikatoll züchteten ..." - S. 96)
Gelungener Rückgriff auf die lokale Historie
Während man sich an den Auftritt von Gespenstern erst allmählich gewöhnt, ist Connollys detailliert gestaltete Rekonstruktion der fiktiven Inselhistorie reizvoll. Nordamerika ist ein Land mit einer Geschichte, die mehr als genug gruselige Episoden für ebensolche Storys bietet. In Neuengland konnten die Ureinwohner den europäischen Einwanderern zumindest im 17. Jahrhundert durchaus Paroli bieten. Wilde, grausame, oft vergessene Dramen spielten sich in dem weiten Land ab, wobei beide Parteien sich an Grausamkeit nichts schuldig blieben. Diese Vergangenheit weiß Connolly als Kulisse zu nutzen. Echte Spukstimmung kommt auf, wenn die Verdammten von Dutch Island des Nachts ihr Unwesen treiben. Zusätzlich baut Connolly eine weitere Handlungsebene auf, wenn er die Ereignisse der Vergangenheit in denen der Gegenwart spiegelt: Ohne es zu wissen sind sowohl die toten als auch die lebenden Bewohner die Insel in einer Schleife gefangen, die zu einer Neuauflage des Massakers von 1693 auszuarten droht. Einige Beteiligte von damals mischen wieder mit, denn ihre Seelen kehrten nicht als Geister wieder, sondern reinkarniert in den Körpern verschiedener Figuren.
Baukasten-Bösewichte & angeknickte Helden
Wobei die Figurenzeichnung ohnehin dem hybriden Charakter des Werkes ausgiebig Rechnung trägt. Da haben wir u. a. einen melancholischen Riesen, sieben wahrlich böse Männer (obwohl eine Frau zu ihnen zählt, die allerdings eher Mannweib ist), eine einsame Mutter mit Kuckuckskind und viele böse Geister. Diese Aufzählung unterstreicht, dass sich der Krimifreund bei der Lektüre gewissen Herausforderungen stellen muss. Schon der Amoklauf von Moloch - welcher Name! - und seiner Natural Born Killers ist pure Übertreibung. Sie morden, vergewaltigen und verstümmeln voll angestrengter Bosheit, ohne dass sich das Gesetz blicken lässt. Als es dann endlich in Erscheinung tritt, manifestiert es sich in grotesker Gestalt.
Joe Dupree ist womöglich als zwiespältiger Charakter angelegt. Solche Tiefe verträgt "Die Insel" anders als Connollys Parker-Romane indes nicht. Duprees Riesengestalt und die ihm daraus erwachsenen Probleme wirken aufgesetzt. Der Riesenkörper verbirgt den üblichen Klischee-Cop mit goldenem Herzen und schwieriger Vergangenheit. Folgerichtig treffen wir auf Dutch Island auch sonst die üblichen kauzigen Verdächtigen, die gut aus einem der üblichen Stephen-King-TV-Filme - der Gruselkönig residiert bekanntlich in Maine - rekrutiert worden sein könnten.
Dazu gibt es nicht nur eine, sondern gleich zwei starke Frauengestalten. Auch hier gilt es zu relativieren. Sharon Macy gibt den weiblichen "Rookie" im Polizeigeschäft und muss sich im Kampf gegen zudringliche Männer und Kriminelle gleichermaßen behaupten. Marianne Elliot ist eine dieser vom Leben gebeutelten aber ungebrochenen Supermütter, die sich den Schrecken einer sorgsam verdrängten Vergangenheit stellen und gleichzeitig ihr Kind verteidigen ohne die Opferrolle wirklich zu verlassen.
Ganz und gar nicht Mitleid erregende Spukgestalten
Das gilt erfreulicherweise nicht für die Dutch-Island-Wiedergänger. Connolly geht von der Theorie aus, dass Geister verlorene Seelen sind, die ein gewaltsames Ende in ein Zwischenreich versetzte, wo sie ohne Gefühl für die verstrichene Zeit oder die Veränderung ihrer Umgebung dazu verdammt sind, automatengleich und sinnlos die Lebenden zu piesacken; ein seltsames, ungerechtes Schicksal, denn sie sind an ihrem Tod schließlich unschuldig. Aber unterlassen wir solche Fragen - sie sind in einem Roman wie diesem völlig unangebracht. Akzeptieren wir Connollys Geisterbild, so wirkt es überzeugend: Die Seelen der Siedler sind als unausgesprochene Bedrohung ständig präsent. Sie nähren sich von negativen Emotionen und treten ausgesprochen mitleidlos auf den Plan, wo diese freigesetzt werden: Connolly-Geister lassen sich nicht durch eine gute Tat erlösen. Sie sind und bleiben böse, wobei sie - ein gelungener Kunstgriff - aufgrund ihrer sonderbaren Natur für ihr Tun nicht verantwortlich gemacht werden können.
Was nicht für den Ullstein-Verlag gilt, der aus der deutschen "Insel"-Ausgabe eines dieser künstlich aufgeblasenen Paperbacks - Blindenschrift auf Serviettenpapier - gemacht hat, aus denen sich offenbar mehr Geld herausschlagen lässt als aus einem "normalen" Taschenbuch, das es auch getan hätte.
John Connolly, Ullstein
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