Die Tränen des Teufels
- Goldmann
- Erschienen: Januar 2001
- 28
- New York: Simon & Schuster, 1999, Titel: 'The Devil´s Teardrop', Seiten: 396, Originalsprache
- München: Goldmann, 2001, Seiten: 443, Übersetzt: Gerald Jung
Unter Umständen wird es eine lange Nacht
Drei Habichte haben dem Bauern schon viele Hühner geschlagen. Eines schönen Tages sieht er sie alle drei auf dem Dach des Hühnerstalls sitzen. Der Bauer hat nur eine Kugel im Gewehr, und die Habichte sitzen so weit auseinander, dass er nur einen von ihnen treffen kann. Er zielt auf den Habicht ganz links, schießt und erwischt ihn. Es gibt keinen Querschläger. Wie viele Habichte sitzen noch auf dem Dach?
Wer gerne Rätsel löst, der ist bei diesem Roman richtig. Und wer glaubt, das obige Rätsel sei zu einfach, der kennt Deavers Logik noch nicht.
23 Tote und 37 Verletzte bleiben in einer U-Bahn-Station in Washington, D. C. zurück, nachdem ein Unbekannter am Silvestermorgen 1999 um Punkt 9 Uhr mit einer schallgedämpften Maschinenpistole wahllos in die Menge feuerte. Eine Stunde später hatte Bürgermeister Kennedy bereits ein Schreiben vorliegen, in dem ein Erpresser 20 Millionen Dollar bis um 12 Uhr fordert. Der "Digger" wird um 4 Uhr, um 8 Uhr und um Mitternacht weitere Mordanschläge verüben, sofern er nicht vom Briefschreiber gestoppt wird. Der Bürgermeister entschließt sich, die geforderte Summe zu zahlen und das FBI wird eingeschaltet, um die Geldübergabe zu überwachen. Doch der Erpresser erscheint nicht zum vereinbarten Zeitpunkt. Anhand der Fingerabdrücke auf dem Brief wird kurze Zeit später ermittelt, dass der Erpresser identisch ist mit dem Mann, der am Vormittag vor dem Rathaus von einem Lieferwagen überfahren und tödlich verletzt wurde.
Nun gibt es keinen Kontakt mehr zum Digger, dem Massenmörder, der um 4 Uhr wieder zuschlagen wird. Das FBI unter der Leitung von Agentin Margaret Lukas hat nun die schwierige Aufgabe, den Digger schnellstens aufzuspüren. Was an Hinweisen vorliegt, ist einzig der handgeschriebene Erpresserbrief. Neue Erkenntnisse erwartet Lukas vom Handschriften-Experten Parker Kincaid. Doch der lehnt jede Mitarbeit ab, da seine Ex-Frau gerade aufgetaucht ist und sich das Sorgerecht für ihre Kinder wieder zurückholen will. Und wenn bekannt würde, dass Kincaid wieder für das FBI arbeitet, dann stünden seine Chancen schlecht. Als noch eines der verletzten Kinder des Mordanschlages stirbt, willigt Kincaid schließlich ein, zu helfen, unter der Bedingung, dass er inkognito bleibt.
Eine Teufelsträne ist in der Graphologie ein Punkt mit einem kleinen Strich nach oben, der beim Absetzen des Stiftes entsteht. Und genau solche Teufelstränen kennzeichnen die i-Punkte im Erpresserscheiben dieses Romans.
Nicht mal 24 Stunden umfasst das Geschehen, das Jeffery Deaver auf 445 Seiten in teilweise atemberaubender Geschwindigkeit erzählt. Um 8.55 Uhr am Silvestermorgen beginnt der Roman mit einem Massenmord und um 3 Uhr früh am Neujahrsmorgen kommt es zum Showdown. Dazwischen minutiös beschrieben die Verfolgungsjagd des FBI nach dem großen Unbekannten, der immer wieder einen Schritt voraus ist.
Nach Der Knochenjäger ist "Die Tränen des Teufels" der zweite Roman von Jeffery Deaver, den ich gelesen habe. Das Schema, nach dem der Thriller aufgebaut ist, ist in beiden Fällen genau das gleiche:
Ein ehemaliger Polizist, der jetzt Privatmann ist, wird benötigt, um ein Verbrechen aufzuklären. Erst weigert er sich, dann willigt er schließlich doch ein. Ihm zur Seite steht eine intelligente Frau, die bisher unterschätzt wurde. Und das es zwischen den beiden, die zunächst nicht so gut miteinander können, mit fortschreitender Dauer immer mehr knistert, dürfte dem Leser schnell klar werden. Mit logischen Schlüssen wird der Täter verfolgt, der jedoch den Ermittlern immer gerade einen Schritt voraus ist. Eine Tätersuche im eigentlichen Sinne zum Mitraten für den Leser findet zwar nicht statt, doch wartet in beiden Büchern schließlich eine Überraschung in dem Sinne, dass doch eine Person der Handlung in das Verbrechen verwickelt ist. Und das Ende ist überaus furios.
Doch diese Analogie im Aufbau tut der Qualität des Romanes keinen Abbruch. Wer übrigens den Knochenjäger kennt, dem sei verraten, dass dessen Protagonist Lincoln Rhyme hier eine kleine Gastrolle hat.
Die Logik in Deavers Romanen ist schon eine ganz besondere, die man als Leser nicht immer als glaubwürdig bezeichnen kann. Die Ermittler des FBI ziehen ihre eigenen logischen Schlüsse, doch dann kommt Kincaid, schlußfolgert, dass der Verbrecher es genau darauf angelegt hat, die Polizisten dies glauben zu machen, und dreht prompt die ganze Logik um.
Es ist schon erstaunlich, aus welch minimalen Hinweisen Schlüsse gezogen werden können. Die Untersuchung jeder einzelnen Spur wird detailliert und zum Teil wissenschaftlich beschrieben. So kann man als Leser genau mitverfolgen, wie sich das Team der Ermittler Zug um Zug dem Mörder nähert. Doch man sieht gleichzeitig auch die Gegenseite, denn zwischendurch beschreibt der Autor das Geschehen aus der Sicht des Verbrechers. Dabei wird dieser so dargestellt, dass man zwischen Entsetzen und Mitleid schwankt. Dieser doch recht häufige Wechsel der Perspektive wirkt aber keineswegs störend und schadet der Spannung in keiner Weise. Durch unvorhergesehene Wendungen wird das Geschehen nie langweilig.
Alle Personen der Handlung sind ausgesprochen genau dargestellt. Die Hauptpersonen glaubt man schon schnell selber zu kennen, doch auch die Nebendarsteller werden generell so eingeführt, dass man einen guten Eindruck bekommt und keinen verwechselt. Auch macht es Spaß, die Entwicklung der einzelnen Charaktere selbst über eine so kurze Zeitspanne zu beobachten. Sehr gut beschrieben, wie sich der Eindruck einzelner Personen über andere und ihr Verhalten zueinander sich ändert.
Doch wie auch schon beim Knochenjäger bleiben auch hier einzelne Klischees wie die Beziehung zwischen Kincaid und Margaret Lucas nicht außen vor.
Jeffery Deaver hält die Spannung fast über den gesamten Handlungszeitraum auf einem so hohen Level, dass man über manche Unglaubwürdigkeiten gerne mal hinwegsieht. Ebenso sollten auch kleine Fehler in der Übersetzung nicht sehr störend wirken. So wird zum Beispiel die Zeitangabe als Kapitelüberschrift einmal in der amerikanischen Form als 02:45 (nachmittags viertelvordrei), dann im nächsten Kapitel mit 15:00 angegeben. Teilweise trägt Deaver doch etwas heftig auf. Bei so manchen logischen Schlüssen wird Parker Kincaid schon mal zum intelligenten Übermenschen, auf dessen logische Schlüsse wohl kein Leser selber gekommen wäre.
Über den Schluß des Buches mag sich jeder sein eigenes Urteil machen. Sicher kennt jeder den schriftstellerischen Effekt, die Spannung plötzlich nochmal neu aufleben zu lassen, wenn eigentlich alles abgeschlossen und der Täter gefasst zu sein scheint. Doch Jeffery Deaver treibt es hier auf die Spitze, indem er dieses Stilmittel gleich zweimal anwendet. Ich persönlich mag diese reißerische Aufmachung prinzipiell nicht sehr, doch finde ich, dass das erste angehängte Finale hier die Spannung nochmals zu einem Höhepunkt treibt, auf den allerletzten Schluß jedoch hätte der Autor dann verzichten sollen.
Für das letzte Drittel des Buches sollte man schon mal einige Zeit einplanen, denn man wird den Roman dann nicht mehr aus der Hand legen, so daß es unter Umständen eine lange Nacht werden kann. Deaver ist mit "Die Tränen des Teufels" wieder mal ein absolut fesselndes Buch gelungen. Die von mir vergebenen fünf Sterne sind aber dennoch recht knapp, denn einige Unglaubwürdigkeiten und einzelne Klischees verhindern eine kritiklose Beurteilung. Dennoch von mir eine eindeutige Leseempfehlung.
Und wer die Lösung des Rätsels von oben wissen will, der muß erst mal alle 444 Seiten des Buches lesen. Spielverderber dürfen auch gleich im Anhang nachschlagen.
Jeffery Deaver, Goldmann
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