Die Saat des Bösen

  • Goldmann
  • Erschienen: Januar 1998
  • 9
  • New York: Viking, 1995, Titel: 'Speaking in Tongues', Originalsprache
  • München: Goldmann, 1998, Seiten: 411, Übersetzt: Hans-Joachim Maass
  • München: Goldmann, 2005, Seiten: 411
Die Saat des Bösen
Die Saat des Bösen
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Michael Matzer
1001

Krimi-Couch Rezension vonMai 2003

Hundertmal spannender als irgendein Grisham

Eine Mordserie ereignet sich im ländlichen Virginia und versetzt eine ganz bestimmte Familie in Angst und Schrecken, die Familie von Tate Collier. Dass er von seiner Frau Bett McCall schon seit Jahren geschieden ist, stört den Killer nicht. Er fängt mit Tates Tochter an.

Die 17-jährige Megan wird immer die "verrückte Megan" genannt. Sie kommt nämlich nach der Scheidung ihrer Eltern mit ihren Problemen nicht mehr zurecht und hat sich bereits mit mehreren ungewöhnlichen Männern eingelassen. Nach einer besonders turbulenten Nacht lässt sie sich von ihrer Mutter, Bett McCall, dazu überreden, den Psychotherapeuten Dr. James Paters aufzusuchen. Peters gelingt es in der Tat, Megans Vertrauen zu gewinnen. Immer tiefer in ihrer Psyche bohrend stößt er auf sehr viel Zorn und Frustration und überredet Megan, ihre Wut rauszulassen und aufzuschreiben.

Das Mädchen ahnt nicht, dass Peters keine Approbation hat und ein Mörder ist. Am nächsten Morgen ist sie spurlos verschwunden. In Tate Colliers Haus tauchen nur die verhängnisvollen Gesprächsaufzeichnungen Megans auf. Sie lesen sich nun wie wütende Abschiedsbriefe. Darauf fällt auch die Polizei herein: Wer sucht schon nach einer Ausreißerin, die wahrscheinlich schon längst im Zug nach New York City sitzt?

Tate Collier, ein ehemaliger Staatsanwalt und seit fünf Jahren im Ruhestand, bittet seinen alten Freund Konnie von der Polizei, dennoch nach Hinweisen auf Megans Entführung zu suchen. Konnie ist ein hervorragender Schnüffler. Schon bald stößt er auf Ungereimtheiten. So etwa scheint der letzte Megan-Lover, der ältere Englischlehrer Carson, sich selbst verbrannt zu haben, weil er sich Vorwürfe macht, Megan und andere Mädchen verführt zu haben.

Ein weiterer Lover Megans ist der Farbige Joshua LeFevre, ein rebellischer Kunstmaler aus betuchtem Hause. Als er mit Colliers und Konnies Hilfe Megans Spur aufnimmt, stößt er in den Bergen Virginias, den höhlenreichen Appalachen, auf ein unheimliches und abgelegenes Anwesen. Zwei Erweckungsprediger hätten hier ihre Gottesdienste mit feurigen Reden abgehalten, erzählt ihm eine Anwohnerin. Doch hier stößt Joshua nur auf Aaron Matthews. Er ahnt nicht, dass Matthews mit Dr. James Peters identisch ist.

Peters/Matthews setzt wie schon bei Megan seine heimtückische Überredungskunst und seinen psychologischen Scharfblick ein, um Joshua aus dem Konzept zu bringen. Joshua ahnt ja, dass er Megan hier finden könnte. Doch als er sich ablenken lässt, unterliegt er.

Nun schweben nicht nur Megans Eltern in ernster Gefahr, sondern auch der alte Polizist Konnie, der sich auf die Spur des Dr. Peters gesetzt hat. Doch auch Konnie hat einen schwachen Punkt, wie jeder. Es erscheint schier unglaublich, aber auch diesen abgebrühten und zynischen Polizisten "schafft" Dr. Peters mit seiner Beredsamkeit. Schließlich aber trifft er auf seinen eigentlichen Gegner: Tate Collier war einmal der brillanteste Staatsanwalt Virginias. Seine Beredsamkeit ist mindestens ebenso so groß wie die von Matthews/Peters. Und damit hatte er fünf Jahre zuvor dessen Sohn hinter Gitter gebracht...

In einer der vielen Höhlen findet der folgerichtige Showdown zwischen diesen beiden Meistern der Beredsamkeit statt. Und vielleicht gibt es für die entführte Megan noch eine Überlebenschance.

Der Leser ist von Anfang im Bilde, was gespielt wird. Wir folgen den Machenschaften Matthews/Peters´ ebenso wie den verzweifelten Befreungsversuchen, die Megan in den unheimlichen Kellern auf dessen Anwesen unternimmt. Getreu dem alten Hitchcock-Grundsatz sind wir den Vertretern des Guten stets weit voraus und bangen um ihr Überleben: So wird Suspense aufgebaut. Wir können dem Tod bei der Arbeit zusehen und fragen uns, wer das moralische Recht hat, zu überleben.

Als der Autor immer mehr Einzelheiten über die Geschehnisse fünf Jahre zuvor enthüllt, die zu Peters´ Rachefeldzug und Colliers Amtsniederlegung führten, gerät Collier zunehmend ins Zwielicht. Der Vertreter von Gesetz und Ordnung scheint ja über Leichen gegangen zu sein, wenn es seiner Sache dienlich war. Vielleicht hat ja am Ende der Mörder Recht? Als es diesem auch noch gelingt, Bett McCall für sich einzunehmen und zwischen sie und ihren Ex-Mann einen Keil zu treiben, scheint Collier auf verlorenem Posten zu stehen. Die Chancen für Megans Überleben schmelzen dahin.

Und so hängt alles von der finalen Konfrontation der beiden männlichen Hauptfiguren ab. Diese Szene ist ebenso hervorragend ausgearbeitet wie jene Szene, in der Konnies Fall und Vernichtung angebahnt wird. Hier spielt Deaver sein ganzes Wissen als Psychologe und sein Können als Rhetoriker aus. Und erst in dieser Szene, kurz vor Schluss, zieht Collier sein größtes Ass aus dem Ärmel (ich werde mich hüten, das hier zu verraten!). Und das haut nicht nur seine Zuhörer um.

Der Originaltitel lautet "Speaking in tongues", also "in Zungen sprechen". Das Taten bekanntlich die Leute und Jünger Jesu zu Pfingsten, als sie den Geist Gottes em-PFING-en. Davon leitet sich die Erweckungsbewegung ab, die Pentecost-Sekte. Ihr gehörte beispielsweise auch Jeannette Wintersons Mutter an, wie J.W. in ihrem Roman "Orangen sind nicht die einzige Frucht" (neu als Taschenbuch bei BVT) erzählt.

Im Buch zog Aaron Matthews mit seinem Vater von Dorf zu Dorf, um flammende Erweckungsreden, angeblich göttlich inspiriert, abzuhalten und den zuhörenden Lämmern das Geld aus der Tasche zu ziehen. Natürlich war das Ganze inszeniert.

Doch der Autor zieht von hier aus eine direkte Parallele zu Tate Colliers Tätigkeit als Staatsanwalt von Fairfax County in Virginia. (Die Polizei zählt nicht: Sie ist den Besitzenden hörig.) Und er rückt somit die Rechtssprechung auf eine Stufe mit Scharlatanen wie Matthews & Sohn. Da ist eine extrem kritische Haltung, die Deaver hier andeutet - mindestens so kritisch wie jene des frühen John Grisham, etwa in "Die Firma".

Die Parallelen gehen noch weiter, wie der Titel des ersten Buchteils andeutet: Es geht um die jeweiligen Erstgeborenen von Matthews und Collier. Nach dem altbiblischen Gesetz von "Auge um Auge, Zahn um Zahn" vergilt Matthews´ den Tod seines Sohnes an Colliers Tochter, Megan. Aber hat dieses Gesetz heute noch Gültigkeit? Und somit auch die Worte zahlloser Fernsehprediger in den USA und anderswo?

Was mich etwas nervte, war die etwas naive Haltung von Bett McCall. Sie wird auch als Esoterikfanatikerin etwas lächerlich gemacht. Dennoch ist sie ebenso realistisch gezeichnet und plausibel gezeichnet wie der angeblich so gefühlskalte Tate Collier. So richtig sympathisch ist eigentlich nur der arme alte Polizist Konnie, der ein weitaus besseres Ende seines Lebens und seiner Laufbahn verdient hätte.

Dieser Thriller ist hundertmal spannender als irgendein Grisham, hat mehr Action und Intelligenz in den entscheidenden Szenen und lässt den Leser nicht mehr los bis zur letzten Szene. Von späteren Deaver-Romanen unterscheidet er sich lediglich dadurch, dass nicht so viele überraschende Wendungen enthalten sind und keine "Knochenjäger" auftauchen.

Die Saat des Bösen

Jeffery Deaver, Goldmann

Die Saat des Bösen

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