Haut und Knochen
- Knaur
- Erschienen: Januar 2006
- 8
- London: HarperCollins, 2004, Titel: 'Unquiet Dead', Seiten: 339, Originalsprache
- München: Knaur, 2006, Seiten: 461, Übersetzt: Karl-Heinz Ebnet
- Augsburg: Weltbild, 2008, Seiten: 396
Die Mumie im Grusel-Schwimmbad
Für Detective Inspector Jessie Driver ist dies eine Zeit persönlicher Krisen: Ihr alter Chef und Mentor wurde pensioniert, mit seiner Nachfolgerin zerstreitet sie sich schon am ersten Arbeitstag. Kollegen kritisieren oder mobben sie. Privat leidet Jessie unter ihrer schwierigen Beziehung zu einem flatterhaften Rocksänger.
Auch der aktuelle Kriminalfall sorgt für Ärger. Die Tochter einer publicitysüchtigen Schauspielerin ist verschwunden. Während ihre Vorgesetzte und die Mehrheit der Kollegen eine Entführung vermuten, denkt Jessie eher an ein für die Medien inszeniertes Verschwinden. Die Ermittlungen führen u. a. in die Marshall Street Baths, eine alte, längst geschlossene Schwimmhalle, in deren Ruine sich nun Junkies herumdrücken. Die Tochter findet sich dort nicht. Dafür entdeckt man in der Aschegrube eines uralten Heizungskessels die vollständig mumifizierte Leiche eines Mannes. Man hat ihn gefesselt in die Grube gestoßen, dort von Ratten anfressen und schließlich ertrinken lassen - ein Mord, dessen Brutalität von Rache kündet.
Jessie nimmt sich dieses neuen Falles an. Ihre Nachforschungen gestalten sich verständlicherweise schwierig, doch schließlich wird das Opfer identifiziert - ein Krimineller, der vor 14 Jahren spurlos verschwand, nachdem er wegen eines Verfahrensfehlers einer Verurteilung als Kidnapper im letzten Moment entkommen konnte. Entführt hatte der Mann Nancy Scott-Somers, Tochter einer prominenten und einflussreichen Familie, die sehr auf ihr Privatleben bedacht ist und keinesfalls dulden will, dass Jessie die alte Sache wieder aufleben lässt. Die Scott-Somers üben über Anwälte, hohe Beamte und Jessies Vorgesetzte Druck auf die Polizistin aus, die sich indes nicht abschrecken lässt, zumal sie auf ein sorgsam gehütetes Familiengeheimnis stößt, das die Scott-Somers als Dulder oder sogar Auftraggeber des besagten Rachemordes in Verdacht bringt. Daraufhin wird es eng für Jessie, die immer wieder in die Marshall Street Baths zurückkehren muss, wo mehr als ein Geist umgeht, der Vergeltung fordert und diese mit Gewalt einfordert ...
Krimi-Klassik mit Horror-Einsprengseln
Würde diese Geschichte in Edinburgh spielen, hätte wahrscheinlich Ian Rankin sie erfunden: Ein vertracktes Rätsel wurzelt in einer Vergangenheit, die längst nicht so tot ist wie die Leichen, die sie produziert hat. In diesem Fall scheinen sie buchstäblich durch die gekachelten Hallen des alten Schwimmbads zu geistern; sogar ein leibhaftiger Exorzist erläutert der ermittelnden Polizistin, wie das Spuken funktioniert.
"Die unruhigen Toten" lautet der Originaltitel, der wie üblich dem Inhalt gerechter wird als die deutsche "Übersetzung". (Gay Longworth soll offenbar ins Fahrwasser der gerade gut verkauften Seziersaal-Thriller gelotst werden; mit entsprechenden Wortspielen wird plump vor allem eine angebliche Nähe zur ungleich erfolgreicheren "Kollegin" Kathy Reichs suggeriert.) Unruhig sind sie, weil sie ihre Angelegenheiten im Leben nicht regeln konnten oder ihre Angehörigen sie nicht ruhen lassen. Das Ergebnis ist eine ungute Mischung beider Sphären, wobei sich in den Marshall Street Baths ein regelrechter Schnittpunkt zwischen der diesseitigen Welt und dem Jenseits gebildet hat.
Die behutsame Annäherung eines ansonsten lupenreinen Polizeithrillers der britisch soliden Art an einen Schauerroman stört erfreulicherweise selbst den Puristen nicht; auch hier haben Longworth-Vorgänger von John Dickson Carr bis Ian Rankin Maßstäbe gesetzt. Ob es nun wirklich spukt oder ob es die Zwangsvorstellungen verstörter Hirne sind, welche sich manifestieren, darf jede/r Leser/in selbst entscheiden. Longworth selbst wird jedenfalls nie müde zu beschreiben, dass jedes Kapitalverbrechen über die Folgen körperlicher Gewalt hinaus auch die Psyche nachhaltig beschädigt.
Der eigentliche Krimiplot ist stabil und wird logisch durchgespielt, ist aber alles andere als originell. Wenn man sehr kritisch urteilen möchte, ist das "Spannungshighlight von einer ´wahren Meisterin des Thriller" (Werbegrollen auf der Umschlagrückseite) ein Patchwork-Krimi im Polizeimilieu, der mit kriminalistischen Sackgassen und Überraschungen (sowie weiteren Leichen) nicht geizt, mit den Versatzstücken seines Genres jongliert. Freilich rutschen sie der Verfasserin im Finale aus den Händen: Die Auflösung des Plots kann nur als missglückt bezeichnet werden und lässt die bisher angetanen Leser verärgert zurück. Dazu lässt sich Longworth von der modernen Unsitte des Doppel- oder gar Dreifach-Finales verleiten, viel zu viel literarisches Pulver zu verschießen. Das Ergebnis ist keine Steigerung von Höhepunkten, sondern ein gegenseitiges Außerkraftsetzen.
Abgeschmeckt wird die Handlung mit viel Herzschmerz (s. u.) und selbstverständlich Sozialkritik. Von ersterer gibt es zu viel, letztere wird nicht annähernd so überzeugend vermittelt wie vom bereits mehrfach genannten Ian Rankin. So ist es in erster Linie das handwerkliche Können der Autorin, welches die Leser fesselt. Dazu kommen echte Highlights wie die Szenen in den verrottenden Marshall Street Baths (die es übrigens tatsächlich gibt, wie die Verfasserin im Nachwort anmerkt). Hier kommt wie gesagt echte Schauerstimmung auf, die zusammen mit einem eigenartigen Faible der Autorin für skurrile und splatterige Einschübe für eine angenehme Abwechslung sorgt, wenn zwischendurch wieder etwas zu viele Hände gerungen und Herzen gebrochen werden.
Die allseits gepiesackte Polizeifrau
Jessie Driver - eine moderne Frau in einer Männerwelt. Das bedingt jene Mischung aus Krimi und Seifenoper, ohne die heute kein Kriminalroman mehr auszukommen glaubt. Positiv ist in diesem Zusammenhang die Schilderung des Polizeialltags hervorzuheben. In ihrem Revier findet Jessie wenig Solidarität. Das schließt ihre männlichen Kollegen ebenso ein wie die weiblichen. Die einen bilden auch im 21. Jahrhundert eine verschworene Gemeinschaft chauvinistisch gestimmter Kerle, die wenig oder gar nichts von Frauen als Gesetzeshüter halten und ihnen das heimlich oder offen mit sexistischen "Scherzen", übler Nachrede oder offenes Mobbing zeigen. Da spielt viel Furcht vor der weiblichen "Konkurrenz" mit, die sich nicht an den ungeschriebenen "for the boys"-Kodex hält, mit dem die Männer seit jeher ihren Dienstalltag regeln und Karriereplanung betreiben.
Paradoxerweise halten sich auch Frauen an dessen Spielregeln. DCI Moore hat es weit gebracht in der Polizeiwelt. Trotzdem ist sie unsicher und stößt Jessie lieber vor den Kopf, als ihr, der Untergebenen, im unfairen Kampf mit den intriganten Kollegen beizustehen. Die daraus erwachsenden Spannungen werden realistisch geschildert und tragen zur Atmosphäre dieses Krimis bei, obwohl sie nur mittelbar mit dem Mordfall zu tun haben. Longworth orientiert sich hier an Vorbildern wie Nigel McCrery mit seiner "Silent Witness"-Reihe um die Gerichtsmedizinerin Samantha Ryan sowie besonders Lynda LaPlante mit ihrer beispielhaften "Prime Suspect"-Serie (dt. "Heißer Verdacht") um die im kollegialen Dauerstress stehende Jane Tennison (im Film fulminant verkörpert von Helen Mirren).
Hätte es die Verfasserin bloß dabei belassen! Doch eine taffe weibliche Polizistin benötigt offenbar unbedingt ein publikumsattraktives Privatleben - ein möglichst desolates selbstverständlich. Also gibt es Longworth der armen Jessie knüppeldick: Ihr Lover ist ein nur bedingt treuer Rockstar, der außerdem unter Mordverdacht stand (vgl. "Dead Alone", dt. "Bleiche Knochen", Knaur-TB Nr. 62390); die Mutter starb, ohne der seither offensiv trauernden Tochter die Gelegenheit zu einer letzten Aussprache gewährt zu haben; Jessie hadert deshalb auch mit Gott, welcher so eine Schweinerei zuließ; der sonst fast aufdringlich patente Bruder Bill lässt sich mit einer schmierigen Sensationsreporterin ein, die prompt Jessies schmutzige Privatwäsche an die Öffentlichkeit zerrt ... nein, es sind ein paar Nackenschläge zuviel, die der Heldin hier verabreicht werden. Sie sorgen für unnötige Längen in der Handlung und fallen in ihrer übertriebenen Dramatik eher lächerlich aus.
Hart an der Grenze zur Karikatur stehen die Scott-Somers, eine dieser schrecklich netten High-Society-Familien, die hinter einer einst glänzenden Fassade (wie die Marshall Street Baths) völlig verrottet sind und ein Pandämonium finsterer Übeltäter und Psychopathen verbergen. Man belügt und betrügt einander, wobei das reichlich vorhandene Geld hilft diese Exzesse bis ins Absurde zu steigern. Daneben gibt es noch eine hysterisch alternde Schauspielerin, ihre rollige Tochter, einen psychisch maroden Hausmeister sowie einen kannibalistischen Witwer.
Bestsellerautorin im Larvenstadium?
Noch gibt es also eine Menge zu feilen, lädt Gay Longworth ihrer Handlung zu viel Ballast auf. Die Jessie-Driver-Serie möchte sie weiterführen, so dass abzuwarten gilt, ob sie dies in den Griff bekommt. Das Potenzial zum Bestseller hat diese Reihe zweifellos - und sei es nur deshalb, weil Longworth so geschickt zu liefern versteht, was die Mehrheit der Krimileser sich wünscht: einen maßvoll unkonventionellen Thriller, der es angenehm gruseln lässt aber weder irritiert noch an Seelensaiten rührt, die man nicht unbedingt zur feierabendlichen Lesestunde in Aufruhr gebracht sehen möchte.
Gay Longworth, Knaur
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