Die Sünden der Väter
- Goldmann
- Erschienen: Januar 2006
- 10
- London: Orion, 1998, Titel: 'The Hanging Garden', Originalsprache
- München: Goldmann, 2006, Seiten: 416, Übersetzt: Giovanni & Ditte Bandini
Thriller-Traktat über den ewigen Kampf um die Menschenrechte
AIn ihrem Bemühen den lästigen Untergebenen endlich aus seinem Job zu ekeln haben sich Detective Inspector John Rebus’ Vorgesetzte etwas Neues einfallen lassen. Sie beauftragen ihn gegen den alten Gelehrten Joseph Lintz zu ermitteln. Der steht im Verdacht, in jungen Jahren als Mitglied von Hitlers SS in Frankreich aktiv an unerhörten Kriegsgräueln teilgenommen zu haben. Lintz streitet dies ab und erweist sich als Meister der ausweichenden Auskunft - oder als Unschuldiger.
Viel lieber würde Rebus bei den Ermittlungen gegen Tommy Telford mittun. Der junge, charismatische Gangsterboss plant sich zum Führer der Edinburgher Unterwelt aufzuschwingen. Jede kriminelle Machenschaft ist ihm dabei Recht. Er legt sich sogar mit dem bisherigen Alleinherrscher "Big Ger" Cafferty an, der zwar in die Jahre gekommen aber keineswegs willig ist die Macht zu teilen. Ein Bandenkrieg droht; erste Opfer sind bereits zu beklagen.
Die Polizei steht dem mehr oder weniger hilflos gegenüber. Sowohl Cafferty als auch Telford haben ihre Truppen gut im Griff. "Gesungen" wird nicht, Beschattungen fliegen regelmäßig auf. Rebus schleicht sich trotzdem gern zu den Beamten der Scottish Crime Squad, einer Sondereinheit, der auch Siobhan Clarke, Rebus’ Ex-Kollegin und gute Freundin, inzwischen angehört. Für ihn ist dieser Fall persönlich geworden: Ein Autofahrer hat Sammy, seine Tochter, angefahren und schwer verletzt. Rebus, der sich als Vater in der Vergangenheit viele Fehler geleistet hat, wird von seinem Gewissen und von Wut übermannt. Er will den Unglücksfahrer, er will Rache. Um sie zu bekommen, verbündet er sich sogar mit seinem Erzfeind Cafferty, der einwilligt ihm den Schuldigen zu liefern. Dafür soll: Rebus Telford hinter Gitter bringen.
Altes Unrecht lebt wieder auf
Derweil findet sich Lintz’ Leiche. Man hat den alten Mann an einem Friedhofsbaum aufgeknüpft - offenbar ein Mord mit Hinrichtungscharakter. Wer ist es, der das Recht in die eigene Hand genommen hat? Notgedrungen bleibt Rebus am Ball und entdeckt Verbindungen zwischen Lintz und Telford. Der hat sich außerdem mit dem tschetschenischen Mafiaboss Jake Tarawicz eingelassen, welcher sich in Edinburgh als Menschenhändler und Dealer etablieren möchte. Schließlich werden sogar hochrangige Mitglieder der Yakuza gesichtet, die stets eine Möglichkeit suchen außerhalb Japans scheinbare legale Unternehmen als Geldwaschanlagen zu erwerben.
Rebus will sie in seinem Zorn alle drankriegen. Dass er sich dabei übernommen hat dämmert ihm spätestens, als er sich auf einen Stuhl gefesselt und mit einem Stromkabel malträtiert wieder findet ...
Von Väter & Töchtern, Nazis & Opfern
Wie üblich setzt Ian Rankin seinen Inspektor Rebus erneut einem Trommelfeuer kriminalistischer Herausforderungen und privater Schicksalsschläge aus. Insgesamt zerfällt "Die Sünden der Väter" in zwei Handlungsstränge. Da haben wir einerseits Rebus’ Kampf gegen die Unterwelt von Edinburgh und andererseits seine Ermittlungen gegen einen möglichen Kriegsverbrecher. Beide Stränge werden verklammert durch Rebus’ Bangen um das Leben seiner im Koma liegenden Tochter bzw. sein Versagen als Familienvater: Der "Sünden der Väter", auf die der deutsche Titel anspielt, haben sich sowohl Joseph Lintz als auch John Rebus jeder auf ihre Weise schuldig gemacht. Mehrfach blendet Rankin Episoden ein, in denen sich Rebus daran erinnert, wie er seine Familie enttäuscht hat.
"Die Sünden der Väter" ist gleichzeitig ein neues Kapitel im spannenden Duell zwischen Rebus und "Big Ger" Cafferty. Der Polizist und der Gangster sind Todfeinde und sich - Rebus’ Kollegen beobachten es mit Misstrauen - als solche näher als manche Freunde. Sie kennen sich seit Jahren, wissen um ihre Geheimnisse, nutzen einander aus und versuchen dem Gegenüber stets mindestens einen Schritt voraus zu sein. Rankin nutzt diesen Zweikampf als Aufhänger, um Edinburghs "Fortschritte" auf dem Weg zur Verbrechermetropole des 21. Jahrhunderts zu beschreiben. Die kriminelle Szene ist zum Spiegelbild einer zunehmend globalisierten Welt geworden: Syndikate überspringen Meere und Kontinente, breiten sich aus, erobern neue Territorien, in denen sie zentral möglichst alle illegalen Aktivitäten kontrollieren und steuern. Der Kontakt zum politischen und wirtschaftlichen Establishment wird gesucht und gefunden, an die Gesetze hat sich nur der Steuerzahler als von oben und unten geschorenes Schaf zu halten.
Gipfeltreffen des Weltgangstertums in Schottland
Die Polizei ist entweder machtlos oder bereits Teil des Filzes. Im Vergleich zu ihren Gegnern sind die Beamten hoffnungslos unterbesetzt, schlecht ausgerüstet und entsprechend motivationsarm. Rebus hat es mit oft halblegalen Tricks, aus langer Berufslaufbahn erwachsener Erfahrung und kriminalistischem Dickkopf geschafft Erfolge zu erzielen. Mit der Unterwelt in ihrer Gesamtheit legt er sich erst an, als er sich persönlich angegriffen fühlt. Die Handlung wird rau, während die Spannung steigt, denn selten hat sich Rebus so viele Feinde gemacht, derer er sich nun gleichzeitig erwehren muss. Das gelingt ihm mit dem üblichen Einfallsreichtum aber er muss harte Schläge einstecken.
Dabei stellt sich - nicht zum ersten Mal - die Frage, ob es Rankin nicht ein wenig übertreibt. Zwei Gangsterbanden im Krieg: Das genügt ihm nicht. Er lässt auch noch die russische Mafia und die Yakuza mitmischen. Sicherlich ist das ein wenig zuviel des Schlechten. Allerdings muss man bewundert, wie Rankin seinen Rebus geschickt die verschiedenen Parteien gegeneinander ausspielen lässt. Am Ende siegt die Gerechtigkeit aber Rankin wäre nicht Rankin, würde er den Triumph nicht sogleich wieder relativieren: Die Macht kennt kein Vakuum, so lässt er Rebus sehr richtig sinnieren; dort wo sie verschwindet, strömt sie sogleich von außen nach. Obwohl die meisten Gangster letztlich auf der Strecke bleiben, wird Edinburgh dasselbe kriminelle Pflaster wie bisher bleiben.
Eindeutig überflüssig wirkt mit dem Fortschreiten der Geschichte der Handlungsstrang um Joseph Lintz. Rankin legt hier eine falsche Fährte, die ihm viel Raum für moralische Exkurse zum Thema Schuld und Sühne bietet. Gleichzeitig geht es um die Schuld derjenigen Regierungen, die einst zum Kampf gegen den Nationalsozialismus und seine Vertreter angetreten sind, aber später die "nützlichen" Nazis vor einer Bestrafung bewahrten, sie mit Geld und einer weißen Weste ausstatteten und beschützten - ein düsteres Kapitel, das noch heute sorgfältig unter den Teppich gekehrt bleibt. Dieses Thema böte Stoff für einen eigenen Roman. Hier wird es verheizt bzw. wirkt wie eine dieser peinlichen Gedenkaktionen, die sich bußfertige Gutmenschen gern ausdenken, ohne die eigentlich Betroffenen vorher zu fragen, ob ihnen dies Recht ist.
Flucht in die Abrechnung
Rebus als Rächer: Mit "Die Sünden der Väter" schlägt Verfasser Ian Rankin einen weiten Bogen zurück zum ersten Band der Serie. "Verschlüsselte Wahrheit" zeigte einen Rebus, dessen Dienstzeit in einer militärischen Spezialeinheit ihn psychisch schwer gezeichnet hatte. Wir erfuhren, dass Rebus in "schmutzigen" Guerillataktiken und zum Kampf gegen Terroristen ausgebildet wurde. Er versteht es also seinen Gegnern eine ungemütliche Zeit zu bereiten. Zu viele Zigaretten und noch mehr Alkohol haben Rebus’ körperliche Fitness zwar untergraben. An seiner Entschlossenheit selbst unter starkem Stress einen "Auftrag" durchzuziehen, konnte dies jedoch nichts ändern.
Dieses Mal ist Rebus sogar doppelt motiviert: Seine Polizeiarbeit ist ihm heilig, auch wenn er sie auf seine Weise erledigt und sich wenig um die Dienstvorschriften schert. Ganz besonders hasst er das organisierte Verbrechen in "seiner" Stadt. Mit "Big Ger" Cafferty hat er schon lange mehr als eine Rechung offen; die beiden liefern sich ein Katz-und-Maus-Spiel, das Rebus nie gewinnen konnte. Tommy Telford ist ebenfalls ein gefährlicher Verbrecher, den Rebus gern ausgeschaltet sähe. In dieser Verfassung kommt es ihm dann nicht mehr darauf an, sich auch mit der russischen Mafia und der Yakuza anzulegen.
In die Wut flüchtet sich Rebus vor allem deshalb, weil sein schlechtes Gewissen ihm zu schaffen macht. Sammy ist das Kind einer unglücklichen Ehe. Rebus und seine Frau waren zerstritten, er war zweifellos ein nachlässiger Vater, dessen Gedanken meist um den aktuellen Fall und kaum um seine Familie kreisten. Erst in jüngster Zeit bemüht sich Rebus seiner Tochter näher zu kommen. Jetzt droht sie zu sterben. Rebus projiziert das eigene Versagen auf Cafferty, Telford & Co. Außerdem sucht er sich eine "Ersatztochter": Die junge bosnische Einwanderin Dunja wurde von Telford zur Prostitution gezwungen. Rebus nimmt sich ihrer an. Sie will er "retten", was ihm bei Sammy misslungen ist. Selbstverständlich ist er hier auch nicht erfolgreicher.
Manche Leichen leben noch
Eher lästig ist Rebus dagegen die Beschäftigung mit dem Fall Joseph Lintz. Der Polizist repräsentiert hier die Mehrheit seiner Zeitgenossen, für die Ende des 20. Jahrhunderts die Nazis nur mehr Schauergestalten aus Geschichtsbüchern und Filmen sind. Rebus liest die Berichte über die Ermordung einer ganzen Dorfbevölkerung, an der Lintz sich beteiligt haben soll, aber das in Erfahrung Gebrachte berührt ihn zunächst nicht: Zu viel Zeit ist vergangen, Zeitzeugen gibt es kaum noch. Diese Haltung ist es, die für Lintz den besten Schutz bedeuteten: So lange er sich in seinem zweiten Leben nichts zuschulden kommen ließ, interessierte sich niemand für das erste. Darüber hinaus ist Lintz ein vornehmer, gebildeter Herr, der für sich einnimmt und mit dem Mörder von Einst nichts mehr gemein hat.
Aber einige Opfer der Nazis haben eben doch überlebt. Sie vergessen und vergeben nicht, weil sie das allgemeine Vergessen fürchten. Deshalb fordern auch Jahrzehnte nach dem Ende des Nazi-Terrors Gerechtigkeit. Nur widerwillig laufen die Mühlen des Gesetzes an; es gibt mehr als genug aktuelle Verbrechen, um die es sich zu kümmern gilt. Auch Rebus muss erst lernen, dass diese Vergangenheit nicht tot ist, weil sich die Sünden der Väter auf die Nachkommen der Täter und Opfer vererben können. Ob Lintz ein Schlächter war oder nicht, bleibt im Grunde Nebensache. Rankin lässt diese Frage daher offen.
Für Rebus erweist sich vor allem Dunja als Bindeglied zwischen den alten und neuen Schrecken. Auch die junge Frau ist ein Kriegsopfer: als bosnische Muslimin wurde sie während des Balkankriegs von "ethnischen Reinigungstruppen" - Mordkommandos - verfolgt. Auch nach dem Ende des Kriegs wagt sie nicht heimzukehren. Die Mörder sind weiterhin unter ihren Landsleuten. So wie Dunja erging es im nazideutsch terrorisierten Europa unzähligen Menschen. Ihr Schicksal ist zeitlos. Es führt Rebus vor Augen, was die Lintzes dieser Welt tatsächlich verbrochen haben. Zumindest in diesem Punkt "funktioniert" Rankins Lintz-Episode. Sie muss ihm wichtig gewesen sein, denn sie gab dem Buch seinen Originaltitel: "In a hanging garden / change the past / In a hanging garden / wearing furs and masks", singen "The Cure" auf ihrem Album "Pornography" von 1982. Doch was geschehen ist bleibt geschehen und wird Teil der Gegenwart. Gleichgültig wie gut es getarnt wird: Irgendwann kommt es unbewältigt und mit ungebrochener Wucht wieder zum Vorschein.
Ian Rankin, Goldmann
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